Zehn Punkte, die alle angehen Was heißt der Brexit für Normalbürger?
London/Brüssel (dpa) - Mehr als ein halbes Jahr nach dem Votum der Briten für einen EU-Austritt hat Regierungschefin Theresa May erstmals genauer gesagt, wie sie sich den Brexit vorstellt.
Wichtigste Botschaft: Das Vereinigte Königreich wird nicht mehr Vollmitglied des europäischen Binnenmarkts sein. Was kommt da auf die Europäer dies- und jenseits des Ärmelkanals zu? Letztlich wird das erst in Verhandlungen zwischen London und Brüssel bis 2019 geklärt. Aber sicher ist: Diese Scheidung berührt fast jeden in Europa.
1. Dürfen Deutsche auch künftig in Großbritannien arbeiten?
Der nach den EU-Regeln erlaubte freie Zuzug aus allen Ländern der Gemeinschaft war für viele Briten der Hauptgrund, für den Brexit zu stimmen. May will der Freizügigkeit ein Ende setzen. Die übrigen 27 EU-Länder halten dagegen, das Prinzip gehöre untrennbar zum Binnenmarkt. Daraus ergibt sich logisch, was May jetzt beschrieb: der Abschied vom EU-Binnenmarkt und dessen Vorteilen, also auch vom freien Verkehr von Waren und Dienstleistungen. Dafür will London künftig selbst bestimmen, wer unter welchen Bedingungen zum Arbeiten auf die Insel kommen darf. Deutsche Fachleute dürften es noch relativ leicht haben, Niedriglöhner eher nicht.
2. Werden EU-Bürger aus Großbritannien ausgewiesen?
2015 lebten nach Angaben der Statistikbehörde Eurostat 2,99 Millionen EU-Bürger im Vereinigten Königreich, darunter 870 000 Polen. Eine Ausweisung ist nach einer Analyse des britischen Oberhauses wegen der Europäischen Menschenrechtskonvention ausgeschlossen, das gilt umgekehrt auch für die mehr als eine Million Briten in anderen EU-Ländern, darunter knapp 300 000 im sonnigen Spanien. Trotzdem sind die mehr als vier Millionen Menschen verunsichert. Ihre Rechte wolle man, so sagte May, so bald wie möglich garantieren, offenbar in einer Verhandlungslösung auf Gegenseitigkeit. Auch für die EU hat dies Priorität. Es geht um Rechte wie Aufenthalt, Arbeitserlaubnis, Besitzrechte an Immobilien und vieles mehr.
3. Kann man als Deutscher nach dem Brexit in London studieren?
Forscher und Studenten könnten unter dem Brexit stark leiden. Fast jeder siebte Beschäftigte im Wissenschaftsbetrieb in Großbritannien stammt aus dem EU-Ausland. Studenten dürfen mit dem „Erasmus+“-Programm ohne Studiengebühren an britische Hochschulen, was 2015 nach Angaben des Akademischen Austauschdiensts allein rund 5000 Deutsche nutzten. Auch Briten studieren mit dem Programm in Deutschland. Nach dem Brexit könnte das anders werden. Es ließe sich aber auch aushandeln, dass Großbritannien Teil von Erasmus bleibt.
4. Müssen deutsche Steuerzahler bald mehr für Brüssel zahlen?
Eines der dicksten Bretter bei den anstehenden Brexit-Verhandlungen ist die Trennung der EU-Finanzen. Großbritannien ist nach Deutschland der größte Nettozahler der Gemeinschaft: 2015 überwies das Königreich 11,5 Milliarden Euro mehr in die EU-Töpfe, als es herausbekam. Für die Bundesrepublik waren es 14,3 Milliarden Euro. Fällt der britische Beitrag weg, muss das benötigte Geld anders aufgebracht werden - vermutlich zum Teil vom bevölkerungsreichsten und wirtschaftsstärksten Mitgliedsland Deutschland. May sagte, mit den „immensen Beiträgen“ sei nach dem Brexit Schluss, sie schloss aber „angemessene“ Zahlungen nicht kategorisch aus.
5. Machen Zölle saure Drops bald unerschwinglich?
Die EU ist auch eine Zollunion: In der Gemeinschaft fallen keine Zölle an und gegenüber anderen Weltregionen legt sie die Einfuhrabgaben gemeinsam fest. Die britische Regierung will aber die Handelsbeziehungen mit Dritten - unter anderem mit den USA - selbst regeln. Dazu müsste sie raus aus der Zollunion. May stellte klar, dass sie keine Zölle im Warenverkehr mit der EU will. Sie hofft auf eine Einigung mit Brüssel. Sonst könnten britische Waren auf dem Kontinent teurer werden - und umgekehrt.
6. Müssen Arbeiter bei Daimler um ihren Job bangen?
Deutschland hat zuletzt Waren für fast 89 Milliarden Euro nach Großbritannien exportiert und für 38 Milliarden Euro von dort importiert. Beim Im- und Export stehen Autos und Fahrzeugteile ganz oben. Jede zweite Neuzulassung in Großbritannien war 2015 ein Auto deutscher Marken. Der Verband der Automobilindustrie sieht den Abschied Großbritanniens aus dem Binnenmarkt deshalb mit Sorge. Doch stellt May ein umfassendes Freihandelsabkommen mit der EU in Aussicht - und rechnet damit, dass diese für beide Seiten „wirtschaftlich rationale“ Option sich durchsetze. Am Verhandlungstisch wird das eine harte Nuss.
7. Können Deutsche bald billiger Urlaub machen?
Das schwächelnde Pfund macht Reisen in Großbritannien billiger als früher. Der Branchenverband British Hospitality Association gibt sich angesichts der vielen ausländischen Touristen im Land zuversichtlich. Falls die Briten künftig genauer aufs Geld schauen müssen, verbringen viele möglicherweise ihren Urlaub lieber in der Heimat, statt wie bisher vorzugsweise auf den Balearen und Kanaren, in Griechenland, der Türkei und der Karibik. Im Umkehrschluss heißt das möglicherweise günstigere Angebote für alle anderen Urlauber, weil die Veranstalter ihre Betten nicht mehr so einfach voll bekommen.
8. Werden Häuser im Taunus noch teurer?
Die britische Finanzwirtschaft warb vor dem Brexit-Votum dringend für einen Verbleib in der EU und fürchtet jetzt um den ungehinderten Zugang für ihre Dienstleistungen auf dem Kontinent. Auch hier will May einen Deal mit der EU. Doch wird auch über einen Abzug von Finanzdienstleistern etwa nach Frankfurt spekuliert. „Mainhattan“ würde wirtschaftlich profitieren. Der Zuzug von Spitzenverdienern könnte aber zum Beispiel auch bedeuten, dass Verkäufer und Vermieter von Häusern und Wohnungen noch mehr verlangen können.
9. Wird Fisch auf deutschen Tellern knapp?
Der Deutsche Hochseefischerei-Verband fürchtet „fatale Folgen“, wenn Großbritannien nach dem Brexit den EU-Staaten die Einfahrt in seine 200-Seemeilen-Zone verwehrt. Dort werden 100 Prozent der deutschen Heringsquote für die Nordsee - insgesamt 55 000 Tonnen - gefangen, zudem ein erheblicher Teil Makrele und Blauer Wittling. Fehlt die Menge, könnte deutscher Fisch für Verbraucher teurer werden. Der Verband hofft auf Vereinbarungen wie mit Norwegen: Wenn deutsche Fischer in norwegischen Gewässern fangen, dürfen ihre norwegischen Kollegen entsprechend in deutschen Gewässern Netze auswerfen.
10. Kann man sich Telefonieren beim London-Trip noch leisten?
Die EU hat in den vergangenen Jahrzehnten Tausende von einheitlichen Regeln eingeführt, viele zum Verbraucherschutz. Vorgaben für Geräte und Lampen sollen Energie sparen helfen, Grenzwerte für Gifte und Chemikalien Krebs bremsen, die Senkung von Roaming-Gebühren soll Reisenden sorgenfreies Telefonieren und Surfen im EU-Ausland ermöglichen. Schafft Großbritannien die EU-Standards ab und macht eigene? Erstmal nicht, sagte May. Der Bestand des EU-Rechts - der sogenannte Acquis - werde mit dem Brexit in britisches Recht überführt. Danach lägen etwaige Änderungen beim Parlament.