„Der Handel erlebt den stärksten Wandel seit der Selbstbedienung“
Handelsverband-Chef Stefan Genth spricht im WZ-Interview über die Probleme des Einzelhandels, warum Vermieter umdenken müssen, Online-Shopping und mögliche Fahrverbote.
Herr Genth, der Modehandel wirbt derzeit mit drastischen Preisreduzierungen. Doch für die Mode läuft es alles andere als gut. Der Konsum boomt, doch der Handel kommt nicht so recht auf die Beine. Woran liegt das?
Genth: Der Konsum in Deutschland boomt, der Einzelhandel wird seine Umsätze 2018 um etwa zwei Prozent steigern, es gibt sehr gute Rahmenbedingungen, weil die Arbeitslosigkeit sehr niedrig ist. Der Konsum läuft, aber eben nicht auf allen Kanälen und nicht für alle Unternehmen gleich gut. Der Online-Handel wächst um zehn Prozent, stationär sind es nur ein bis zwei Prozent. Dadurch haben wir ein sehr bipolares Bild, das besonders der Textilhandel spürt.
Wo liegen die größten Probleme?
Genth: Wir erleben im Handel den stärksten Strukturwandel seit der Einführung der Selbstbedienung. Auslöser sind die demografische Entwicklung und die Digitalisierung. Große Städte boomen, der stationäre Handel funktioniert dort. In den mittelgroßen Städten sieht es anders aus, hier gehen die Umsätze stark zurück. Kleine Städte haben es leichter, weil die Kunden hier nur noch eine funktionierende Nahversorgung erwarten.
Parkplatznot, schlechte Verkehrsführung, gleiche Geschäfte. Tun die Kommunen zu wenig, um den Einkauf attraktiv zu machen?
Genth: Die Kunden wollen attraktive Innenstädte, in denen sie arbeiten, wohnen und einkaufen können. Der stationäre Handel hat dort eine Zukunft. Die Städte müssen mehr als sauber und sicher sein: Wir brauchen neben anziehenden Läden hochwertige kulturelle und gastronomische Angebote und ein attraktives städtebauliches Umfeld. Das ist nicht nur eine Frage der Stadtgröße.
Was fehlt, sind individuelle Läden wie etwa in Holland. Wo hakt es noch? Was machen die anderen besser?
Genth: Der Einzelhandel in Deutschland hat bei seinen Flächen ein starkes Überangebot, und zwar nicht nur bei Lebensmitteln. Der Wettbewerb ist so scharf wie sonst nirgendwo in Europa. Nicht alle Läden werden überleben. Oft spielen dabei auch überzogene Mietforderungen, die nicht erwirtschaftet werden können, eine Rolle. Große Probleme sehen wir vor allem im Textileinzelhandel, wo teilweise schon mehr als 30 Prozent des Umsatzes im Online-Bereich erzielt werden. Die Kundenfrequenzen gehen weltweit zurück, das ist kein deutsches Phänomen.
Steigende Mieten gefährden die kleinen Läden.
Genth: Die Mieten in den 1a-Lagen sind immer weiter hochgeschossen. Das führt natürlich zu einem Verdrängungswettbewerb. Da haben mittelständische Händler gar keine Chance mehr, und werden dann verdrängt. Das sehen wir mit Sorge.
Es gibt Prognosen, wonach bis 2020 rund 50 000 Geschäften das Aus droht.
Genth: Es gibt derzeit etwa 500 000 stationäre Läden in Deutschland. Die Prognose, dass bis 2020 rund 50 000 Standorte verschwinden, wird so wohl nicht eintreffen. Bei der guten Konjunktur werden es weniger sein. Das ganz große Ladensterben sehen wir derzeit nicht.
Was können die Vermieter tun?
Genth: Die Eigentümer der Immobilien werden flexibler sein müssen, wenn sie die Händler als Mieter behalten wollen. Zum Beispiel lässt sich die Miethöhe an den Umsatz koppeln.
Sehen Sie Outlets als Gefahr?
Genth: Factory-Outlet-Center sind ein Teil des Einzelhandels und sollten auch so behandelt werden. Das heißt: Ausnahmeregeln darf es nicht geben. Weder bei der Genehmigung von Bauvorhaben noch bei den Öffnungszeiten.
Der Onlinehandel nagt am Umsatz vieler Geschäfte.
Genth: Der Einzelhandelsumsatz in Deutschland erreicht ein Volumen von etwa 500 Milliarden Euro im Jahr. 90 Prozent davon finden noch in stationären Geschäften statt, zehn Prozent entfallen auf den Online-Handel. Deutlich höhere Anteile gibt es zum Beispiel bei Unterhaltungselektronik und Textilien, aber auch bei Spielwaren. Bei Lebensmitteln sind es nur ein bis zwei Prozent, die über Online-Käufe laufen. Das wächst stark, vor allem in Ballungsräumen. E-Commerce wird insgesamt sicher weiter zulegen, aber wann wir 20 oder 30 Prozent Umsatzanteil erreichen, kann niemand seriös sagen.
Kaufen Sie selbst im Internet?
Genth: Klar, auch ich kaufe online ein. Auch Online-Handel ist Einzelhandel. Erfolgreiche Unternehmen müssen beide Welten verbinden und digital aktiv sein, sonst verlieren sie ihre Kunden.
Beim ewigen Streitthema „verkaufsoffene Sonntage“ legt ein neues Gesetz in NRW fest, dass Geschäfte nun doppelt so oft im Jahr aufmachen dürfen wie bisher.
Genth: Wir begrüßen den Weg der NRW-Landesregierung, an acht Sonntagen im Jahr das Einkaufen unter bestimmten Voraussetzungen zu ermöglichen. Das kann auch ein Vorbild für andere Bundesländer sein. Wir brauchen vor allem mehr Rechtssicherheit und wirklich praktikable Lösungen. Grundsätzlich wäre es deutlich besser, eine bundesweit einheitliche Regelung zu finden und das Thema nicht den Bundesländern und Kommunen zu überlassen. Der Handel und die Städte profitieren sehr von den verkaufsoffenen Sonntagen, weil die Kunden deutlich entspannter einkaufen gehen können. Die Geschäfte haben auch keine Probleme, Mitarbeiter dafür zu finden, weil es Zuschläge gibt. Wir fragen uns, wen die Gewerkschaft mit ihrem Widerstand gegen verkaufsoffene Sonntage eigentlich schützen will.
Kaufhof und Karstadt sprechen über ein Zusammengehen. Wie wird sich das auf den Handel auswirken?
Genth: Zur Fusion kann ich nichts sagen. Wir setzen darauf, dass es auch morgen noch das moderne Kaufhaus in der Innenstadt gibt und ich denke, da gibt es auch den Bedarf für. Ich sehe da echte Chancen, unabhängig von einer möglichen Fusion.
Was würden Fahrverbote für Dieselfahrzeuge für den Handel bedeuten?
Genth: Wir brauchen saubere Luft in den Städten. Aber wie in Hamburg einzelne Straßen zu sperren, ist kontraproduktiv. Durch Umwege wird die Belastung mit Schadstoffen noch zunehmen. Ein Irrsinn. Grundsätzlich ist aber die Autoindustrie gefordert: Sie muss saubere Pkw zur Verfügung stellen. Der Handel braucht aber auch saubere Lkw, weil die Ware in die Städte transportiert werden muss. Noch sind die Angebote der Industrie mangelhaft, was auch mit dem fehlenden Druck der Politik zu tun hat. Gefordert sind auch die Kommunen: Sie müssen die Diesel-Busse nachrüsten oder auf Elektrobusse umstellen. Da setzt unsere Kritik an. Wir können nicht nur auf den öffentlichen Nahverkehr setzen.
Einkaufen ist mehr und mehr abhängig von Daten und Rechenregeln . . .
Genth: Der Handel ist längst eine Technologiebranche geworden. Intelligente Prognose- und Preissysteme werden Einkauf, Produktion und Logistik zunehmend beeinflussen. VR-Brillen als Verkaufshilfe oder bedienbare Spiegel in der Umkleidekabine, die Produktinformationen oder den Warenbestand abrufen - das ist alles noch relativ teuer, wird aber kommen. Wie sehen Trends aus? Wann verkauft sich was am besten? Das wissen nicht nur Modefachleute, sondern immer öfter Algorithmen.
Finden Sie es nicht problematisch, dass Daten im Einzelhandel so wichtig geworden sind und Händler schon vor ihren Kunden wissen, was sie kaufen wollen?
Genth: Nein, wir haben in Deutschland ein hohes Datenschutzniveau und der erfolgreiche Handel muss wissen, was seine Kunden wollen.