Polio: Wenn der Impfstoff zur Mangelware wird

Seit Juni gibt es bei Polio-Impfungen einen Engpass. Nur wenige Konzerne beherrschen den Markt für die komplizierten Stoffe.

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Düsseldorf/Essen. Bedauerndes Schulterzucken bei einer Essener Ärztin für Reisemedizin: „Für Sie haben wir keinen Impfstoff mehr“. Die 58-jährige Patientin wird ohne Auffrischung ihres Impfschutzes gegen Polio (Kinderlähmung) die lange geplante Fernreise antreten müssen. Auch ein anschließender Besuch beim Hausarzt verlief ergebnislos.

Seit etwa Mitte Juni gibt es einen Engpass bei Polio-Impfstoffen. Hintergrund ist ein massiver Anstieg der weltweiten Nachfrage und eine Umstellung der Produktion. Das teilt das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) mit. Seit Oktober 2015 führt das Bundesinstitut für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel im Auftrag des Bundesgesundheitsministerium Buch über derartige Lieferengpässe. Solche Engpässe kämen immer wieder vor, sagt Susanne Stöcker, Sprecherin des Instituts.

Zwischen Oktober 2015 und Dezember 2016 habe es 74 solcher Meldungen gegeben. 42 davon betrafen nur einen Engpass bei einzelnen Abverpackungen — also, dass nur eine bestimmte Variante oder Packungsgröße knapp war — 32 davon waren echte Produktlieferengpässe, also Fälle, in denen der Stoff selbst nicht mehr ausreichend verfügbar war. Engpass bedeutet allerdings nicht, dass der Stoff tatsächlich komplett aufgebraucht ist, sondern dass „die Lieferkette für die Auslieferung eines Impfstoffes von Seiten des Herstellers für einen Zeitraum von mindestens zwei Wochen unterbrochen ist“, wie das Robert-Koch-Institut (RKI) mitteilt.

„Ob bestimmte Impfstoffe besonders häufig betroffen sind, lässt sich so pauschal nicht sagen“, sagt Stöcker. Seit März und Mai sind auch zwei Hepatitis-B-Impfstoffe knapp, im vergangenen Jahr waren auch Pneumokokken und Tetanus-Impfungen betroffen. Die Engpässe dauern unterschiedlich lange an. Beim Pneumokokken-Impfstoff konnte zum Beispiel nach knapp drei Monaten (1. November 2016 bis 15. März 2017) Entwarnung gegeben werden. Zwischen Oktober 2015 und Dezember 2016 lag der Lieferengpass meist zwischen 31 und 100 Tagen für einen Impfstoff.

Für die Engpässe gebe es verschiedene Ursachen. Ein Grundproblem: „Impfstoffe lassen sich nicht ‚auf Knopfdruck’ nachproduzieren“, sagt Stöcker. Die Produktion sei komplex und zeitaufwändig. Meist werden die Impfstoffe aus lebenden Krankheitserregern hergestellt. Diese müssten angezüchtet werden. „Wenn nun einer der Erreger, aus denen der Impfstoff hergestellt wird, sich nicht in ausreichendem Maße vermehrt hat, kann das die Gesamtproduktion verzögern.“ Zudem gebe es zahlreiche Qualitätskontrollen. Sollten die Stoffe nicht alle Anforderungen erfüllen, muss womöglich alles bis dahin Produzierte verworfen werden. Insgesamt dauere die Produktion eines Impfstoffs — je nach Sorte und Anzahl der Krankheiten, vor dem er schützen soll — sechs Monate bis zwei Jahre.

Ein weiteres Problem zeigten Recherchen des Fachmagazins „Ärzte Zeitung“. Demnach beherrschen nur wenige Pharmakonzerne, darunter das britische Unternehmen GlaxoSmithKline (GSK), rund 95 Prozent des Impfstoff-Weltmarktes. „Dass in naher Zukunft weitere große Pharmahersteller hinzukommen, ist nicht zu erwarten“, stellt die Zeitung fest. Auch habe sich noch kein Hersteller von Generika (Nachahmerpräparaten) an die Produktion herangewagt. Auch das „Deutsche Ärzteblatt“ stellte im Frühjahr fest: „In der Pharmabranche gibt es attraktivere Produkte, die weniger aufwendig in der Herstellung, Qualitätskontrolle und Logistik sind.“ Die Gewinnmargen seien bei Impfstoffen zudem niedriger, weil sie nur ein- bis viermal im Leben und nicht täglich verabreicht würden.

Die Pharmaindustrie hält jedoch dagegen: Allein drei neue Impfstoffwerke seien in Deutschland in Burgwedel bei Hannover, Marburg und Singen derzeit im Ausbau, berichtet der Geschäftsführer Forschung des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller, Siegfried Throm. „Wir sehen doch, dass Impfstoffhersteller groß investieren“, meint er.

Für Patienten hat so ein Engpass unterschiedliche Auswirkungen. „Es kann bedeuten, dass sie möglicherweise nicht zum gewünschten Zeitpunkt geimpft werden können oder nicht mit dem speziellen, gewünschten Produkt“, sagt Stöcker. Je nachdem um welches Medikament es sich handelt, gibt das PEI an, welche Impfstoffe oder Produkte sich alternativ verwenden lassen. Sind auch diese knapp, gibt die Ständige Impfkommission am RKI Handlungsempfehlungen heraus. Darin kann zum Beispiel stehen, wie die noch vorhandenen Stoffe verteilt werden sollen. Bisher ungeimpfte Personen, Kleinkinder oder Risikogruppen haben dann Vorrang. Gesunde Erwachsene, die nur zur Auffrischung kommen, haben weniger Priorität und werden in manchen Fällen — wie bei der Essener Patientin — ungeimpft nach Hause geschickt.