Analyse: Unsichere Zukunft für umstrittene Datenbrille Google Glass
Mountain View (dpa) - Kaum ein Gerät wurde jemals so aufregend vorgestellt wie die Computerbrille Google Glass.
Live-Bilder aus der Perspektive von Fallschirmspringern und Bikern, die auf einem Dach fahren - Google-Mitgründer Sergey Brin veranstaltete vor zweieinhalb Jahren eine große Abenteuer-Show, um der Welt sein „Baby“ zu präsentieren.
Inzwischen taucht selbst Brin in der Öffentlichkeit ohne die einst unverzichtbare Datenbrille auf der Nase auf. Auch Software-Entwickler verlieren das Interesse. Bei Verbrauchern überwogen Misstrauen und Sorgen um die Privatsphäre die Neugier.
Jetzt wird das Test-Programm mit der ersten Glass-Generation eingestellt - ohne dass es überhaupt zu einer breiten Markteinführung kam. Google gibt sich große Mühe, es nicht als Scheitern aussehen zu lassen. Das „Explorer“-Programm werde gestoppt, „damit wir uns darauf fokussieren können, was als Nächstes kommt“, heißt es. Eine neue Version sei in Arbeit. Mit der Bildung eines eigenen Teams jenseits des Forschungslabors Google X sei es so etwas wie ein „Schulabschluss“. Die erste Version habe ihre Aufgabe erfüllt, die Technologie besser verstehen zu helfen, zitierte die „Financial Times“ anonyme Google-Kreise. Über eine nächste Generation ist aber nichts bekannt.
Und der Funke der Begeisterung, die Brin 2012 so gerne vermitteln wollte, sprang nie über. Die Menschen auf der Straße machten sich von Anfang an sorgen, heimlich gefilmt zu werden. Mehrere Restaurants erklärten Glass schnell für unerwünscht. Die Runde machte der Begriff „Glasshole“ als Bezeichnung für Nutzer, die die Privatsphäre der Mitmenschen missachten (eine Kombination aus „Glass“ und „asshole“, Arschloch).
Die Glasshole-Episode zeigt, wie sehr das Team des Forschungslabors Google X von den negativen Reaktionen selbst im für Innovationen stets offenen Kalifornien getroffen wurde. „Das Wort Glasshole hat mich komplett überrascht“, sagte der deutsche Informatiker Sebastian Thrun, der bei Google X an der Entwicklung der Datenbrille beteiligt war und einer der Väter des selbstfahrenden Google-Autos ist. „Niemand von uns hat sich das vorstellen können.“
Google konnte aber selbst die Anwender, die mit dem Status eines „Glassholes“ leben konnten, nicht wirklich zufriedenstellen, denn auch 30 Monate nach der spektakulären Premiere krankt die Datenbrille immer noch an handfesten technischen Kinderkrankheiten. Der Akku hält bei intensiver Nutzung der Brille nur wenige Stunden lang, das Gerät wird dabei heiß.
Die Funktion zur Live-Videoübertragung, die einst so medienwirksam vorgeführt wurde, wurde wieder deaktiviert. Um die Batterie zu schonen, wechselt die Brille meist nach wenigen Sekunden in den Stand-by-Modus. Die Auflösung der Kamera ist zu niedrig für hochwertige Fotos. Bei diesen handfesten technischen Mängeln half auch keine Kooperation mit dem weltgrößten Brillen-Hersteller Luxottica, mit der die Träger von klassischen optischen Brillen für Glass gewonnen werden sollten.
„Es ist richtig, zurück ans Reißbrett zu gehen“, sagte Analystin Carolina Milanesi vom Marktforscher Kantar Worldpanel der „Financial Times“. Zugleich sei es zu früh, Glass für gescheitert zu erklären. Die 2014 berufene Vermarktungs-Expertin Ivy Ross, die schon für viele Konsumgüter-Firmen von Calvin Klein und Mattel bis Disney und Gap im Einsatz war, soll das Projekt weiterhin leiten. Sie berichtet wiederum an Tony Fadell, der bei Apple maßgeblich an der Entwicklung des MP3-Players iPod beteiligt war und durch die Übernahme der Smart-Home-Firma Nest zu Google kam.
Das Forschungslabor Google X, das kühn neue Technik entwerfen soll, hat damit ein Projekt weniger unter seinem Dach. Es bleiben aber noch die selbstfahrenden Autos, bei denen eine neue Testrunde mit 150 Fahrzeugen aus eigener Entwicklung bevorsteht. Und exotische Vorhaben wie eine smarte Kontaktlinse, die den Blutzuckergehalt messen und an ein Smartphone funken kann.
Insbesondere beim Projekt der selbstfahrenden Autos kann sich Google ein Debakel wie bei Google Glass nicht mehr erlauben, sonst würde die Glaubwürdigkeit des Konzerns massiv darunter leiden. Neben der technischen Umsetzung des anspruchsvollen Vorhabens kommt es hier auch darauf an, ethische Fragen vor einem breit angelegten Marktstart zu klären.
Darf der Algorithmus eines selbstfahrenden Autos entscheiden, ob er in einer brenzligen Verkehrssituation, in der ein Unfall nicht mehr abzuwenden ist, den Tod eines Fußgängers in Kauf nimmt, um das Leben des Fahrers zu retten? Und wie sieht es mit den Datenschutz-Regelungen bei stets mit dem Netz verbundenen Autos aus? Bei diesem Projekt sollte niemand bei Google mehr überrascht sein, dass Kunden Antworten auf diese Fragen noch vor einem Verkaufsstart verlangen.