Der unbekannte Aktivist: Generation Internet stellt Politik vor Rätsel
Berlin (dpa) - Die Politik sitzt ein wenig zwischen den Stühlen. Sie will auf die „Generation Internet“ zugehen, aber dafür den Schutz des geistigen Eigentums im Netz nicht über Bord werfen.
Auch am Wochenende demonstrieren wieder bundesweit mehrere tausend Menschen gegen das Acta-Abkommen, mit dem unter anderem die EU, die USA und Japan den Urheberrechtsschutz im Internet besser durchsetzen wollen. Der Pakt verpflichtet die teilnehmenden Staaten zu wirksamen Maßnahmen gegen Produkt-Piraterie, auch gegen Urheberrechtsverletzungen im Internet. Die Aktivisten fürchten, dass bei jedem heruntergeladenen Film gleich ihre Daten weitergegeben werden und ihnen saftige Strafen drohen.
„Ich bin erstaunt über die Größenordnung der Proteste“, sagt Dieter Rucht, einer der profiliertesten deutschen Forscher zu sozialen Bewegungen. „Ich dachte, das ist ein Thema, was nicht so mobilisierungskräftig ist, weil zum Beispiel der organisatorische Unterbau fehlt und die Menschen eher individuell am Rechner die Problematik wahrnehmen“, sagt der Forscher des Wissenschaftszentrums für Sozialforschung Berlin (WZB). Nach Protesten in ganz Europa liegt Acta (Anti-counterfeiting Trade Agreement) erst einmal auf Eis, der Europäische Gerichtshof (EuGH) soll es nun überprüfen.
Parteiübergreifend wird befürchtet, dass die Piraten 2013 dank Kontroversen wie bei Acta zu den großen Gewinnern gehören könnten - und es sich um ein dauerhaftes Phänomen handeln könnte. Denn auch wenn der Partei ihre Monothematik vorgeworfen wird, für viele Menschen unter 30 ist das Internet der Lebensmittelpunkt. Sie, die sonst vielleicht nicht wählen würden, haben ein Sprachrohr entdeckt. Ähnlich wie einst die Grünen ist die aktuelle Bewegung ein internationales Phänomen.
Die Acta-Debatte zeige eindeutig, dass die traditionelle Politik noch keine Antwort auf die Generation Internet gefunden habe, so Rucht. „Verschärfend kommt hinzu, dass dieses Abkommen während der Verhandlungen 2008 bis 2011 gar nicht groß öffentlich diskutiert wurde. Die Kritiker sprechen von regelrechten Geheimverhandlungen“, betont Rucht. „Wenn es so war, trifft es den empfindlichen Nerv dieser Generation junger Leute, die ja wie bei der Occupy-Bewegung und der Piratenpartei Transparenz zum Heiligtum und Dogma erkoren haben.“
Die Union ist für den Schutz des geistigen Eigentums und der Urheberrechte - im Internet wie im „normalen Leben“. Man ist sich aber der Leerstelle bewusst. Viele führende Köpfe seien älter als 55 Jahre und hätten mit dem Internet immer noch wenig am Hut, heißt es in der Unionsfraktion. Die Bedeutung der Piraten bei der Bundestagswahl 2013 dürfe man nicht unterschätzen. Die Union habe kein Gefühl für die Partei und ihre Anhänger. „Wir denken immer noch: Eine Partei muss sagen, was sie will. Das ist bei den Piraten nicht so“, wird betont.
Ähnlich sieht es bei der anderen großen Partei, der SPD aus. Viele Mitglieder gehören zur Generation 60 plus. Parteichef Sigmar Gabriel ist neuerdings großer Facebook-Fan und entdeckt das riesige Potenzial einer direkten Kommunikation. Natürlich äußert er sich hier zu Acta, auch wenn er freimütig bekennt: „Ich bin kein Netzpolitiker - und werde in diesem Leben vermutlich auch nicht mehr zu einem werden.“ Er betont: „Natürlich müssen wir Produktpiraterie bekämpfen und Urheberrechte schützen. Geklaut ist geklaut - egal ob im Laden oder im Netz. Aber wir dürfen nicht so tun, als sei jeder, der mit Musik- oder Videodateien umgeht, ein potenzieller Verbrecher.“
Der netzpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Lars Klingbeil, fordert von der Regierung einen Mittelweg: „Die Bundesregierung muss endlich erklären, wie sie das Urheberrecht für die digitale Gesellschaft reformieren will, um einen fairen Ausgleich zwischen den Kreativen und den Nutzern hinzubekommen.“ Auch die Grünen warnen vor einer „rein repressiven Durchsetzung des Urheberrechts“.
Der Forscher Klaus Hurrelmann, Mitautor der Shell-Jugendstudie 2010, sieht die zunehmend egobezogene Haltung der Menschen als eine Triebfeder der Proteste. Deutlicher als jemals zuvor äußere sich das in den vehementen Protesten gegen Acta. „Freiheit, Individualität, nicht einschränken lassen, keine Kontrolle meines persönlichen Lebens - dieser Strang scheint mir der Antriebsmotor zu sein.“
Ego-Taktik nennt Hurrelmann diese relativ neue Protestkultur. Seit etwa zehn oder zwölf Jahren sei die Entwicklung zu beobachten. Was hat sich geändert? „Das liegt an der gesamten Lebenslage“, sagt Hurrelmann. Die Lebensphase Jugend beginne sehr früh und ende sehr spät - „wenn überhaupt“. Die berufliche Zukunft sei ungewiss, die vorgegebenen Strukturen, nach denen man noch in den 70er Jahren erwachsen wurde, gebe es nicht mehr. Das habe dazu geführt, dass das klassische politische Engagement in einer Partei stark zurückgehe.
Gibt es in Deutschland Anknüpfungspunkte zur kapitalismuskritischen Occupy-Bewegung? „Die Acta-Proteste speisen sich weitgehend aus anderen Quellen. Vermutlich finden aber die meisten Occupy-Leute die Acta-Proteste gut“, betont Rucht. „Die Proteste sind heute aber insgesamt kurzatmiger und können auch schnell wieder ausdünnen, während es in anderen politischen Themenfeldern, etwa Ökologie und bei der Anti-Atom-Bewegung, gewachsene Proteststrukturen gibt.“