Von Kaffeekannen und dem Everest: Die Webcam wird 20
Cambridge/Berlin (dpa) - Ob Bergsteiger endlich einmal den Gipfel des Mount Everest sehen wollen oder Oma und Opa das weit weg lebende Enkelchen - die Webcam macht es möglich. Dabei begann alles vor 20 Jahren mit einem viel banaleren Anliegen: Dem Wunsch nach einer Tasse Kaffee im Büro.
Am Anfang stand eine alte Filterkaffeemaschine, die - so erinnert sich Quentin Stafford-Fraser - ziemlich schlechten Kaffee kochte. Trotzdem ging ihr Bild um die Welt. Stafford-Fraser und seine Kollegen im Computerlabor der Cambridge-Universität hatten Ende 1991 eine Kamera auf das Haushaltsgerät gerichtet, die dreimal pro Minute ein verschwommenes, graustichiges Abbild der Maschine auf die Bildschirme der Labormitarbeiter schickte.
„Endlich musste viele Kollegen nicht mehr drei Stockwerke runterrennen, um dann eine leere Kaffeekanne vorzufinden“, erzählt Stafford-Fraser. Ein kleiner Schritt für ihn und seine Kollegen - so klein, dass sie sich an das genaue Datum gar nicht mehr erinnern können -, aber ein großer für die Computertechnik: Die Webcam war erfunden.
Der einzige Haken: Zunächst konnten nur Stafford-Fraser und seine Kollegen mit Hilfe einer selbstgeschriebenen Software den Pegelstand der Kaffeekanne verfolgen. Denn das Web war gerade erst erfunden, nur ein paar Experten nutzten das neue System. Erst als Internetbrowser zwei Jahre später auch Bilder anzeigten, konnte die Welt in den sogenannten „Trojan Room“ schauen. „Damals gab es im Internet noch nicht wirklich viel, und wie diese verrückten Leute in Cambridge da eine sehr teure Kamera auf eine sehr billige Kaffeemaschine gerichtet haben, das hat die Menschen irgendwie angezogen“, sagt Stafford-Fraser heute. „Und dann wurde das Ganze ziemlich berühmt.“
Bald klopften Menschen aus aller Welt an der Tür des Labors, die sich bei der Touristen-Information in Cambridge erkundigt hatten, wo denn die „Kaffeemaschinen-Kamera“ zu finden sei. „Und wir bekamen Beschwerden von Menschen aus anderen Zeitzonen, dass sie die Bilder nicht sehen konnten, wenn es Nacht in Großbritannien war. Also mussten wir eine Lampe aufstellen, die die Kaffeemaschine die ganze Zeit beleuchtete.“ Heute gehört die wohl meistfotografierte Kaffeemaschine der Welt dem Nachrichten-Portal „Spiegel Online“. Gerade ist sie mit der Redaktion ins neue Verlagshaus in der Hamburger Hafencity umgezogen und soll dort schon bald wieder per Webcam zu bewundern sein, mit der Aussicht aus dem 13. Stock des Hochhauses im Hintergrund.
Die Webcam ging unterdessen in Serienproduktion, wurde erschwinglich und auf der ganzen Welt aufgestellt - ob auf der Südsee-Insel Bora-Bora, am Südpol, im Vatikan oder einfach nur am heimischen Gartenzaun. „Die Webcam bringt die Realwelt in den virtuellen Raum“, sagt die Kommunikationswissenschaftlerin Sabrina Misoch von der Universität Mannheim. „Sie hat die zwischenmenschliche Kommunikation im Netz völlig verändert: Berufliche Konferenzen oder auch private Telefongespräche sind damit persönlicher, unmittelbarer und weniger anonym geworden.“
Mit Videotelefonaten via Skype können Oma und Oma dank Webcam ihre Enkelchen in einem weit entfernten Land aufwachsen sehen. Die Kamera am Mount Everest zeigt Bergsteigern schon vor dem Kraxeln den Gipfel. „Im Grunde muss man das Haus seit der Erfindung der Webcam nicht mehr verlassen“, sagt Misoch. „Das war ein wahnsinniger Einschnitt.“
Das Medium biete unendlich viele Möglichkeiten und habe natürlich auch seine umstrittenen Seiten, etwa „Sex-Cams“, die Live-Striptease im Internet bieten, oder öffentliche Überwachungskameras. „Weil die Kameras so klein sind, sind sie zum Überwachen natürlich perfekt geeignet. Aber das stellt auch eine Grenzüberschreitung dar, denn ich kann mir nicht mehr aussuchen, wer mich beobachtet.“
Die allererste Webcam ist dagegen längst abgeschaltet. Am 22. August 2001 schickte sie ihr letztes Bild in die Welt hinaus. Immer noch verschwommen und graustichig sind darauf der heute 44-jährige Computerwissenschaftlers Quentin Stafford-Fraser und seine Kollegen zu sehen, wie sie einen Computer ausschalten. „Ich mache oft Witze darüber, dass ich in dieser Forschergruppe mehr als ein Jahr lang gearbeitet habe und mich eigentlich an keinen anderen Teil meiner Arbeit mehr erinnern kann als an die Kaffeemaschinen-Kamera - dabei habe ich nur einen Nachmittag lang daran gearbeitet“, sagt Stafford-Fraser. „Aber viele gute Dinge entstehen ja so, dass Menschen einfach aus Spaß herumexperimentieren.“