Wael Ghonim - die neuen Helden dürfen weinen

Kairo (dpa) - Die Szene im privaten Fernsehkanal Dream TV erschütterte am Montagabend ganz Ägypten: Am Ende eines fast 20-minütigen Interviews brach der Internet-Aktivist Wael Ghonim in langes Schluchzen aus.

Die Moderatorin der Sondersendung, Mona al-Schasli, hatte ihn mit den Fotos von jungen Leuten konfrontiert, die bei den Protesten gegen das Regime von Präsident Husni Mubarak von Sicherheitskräften getötet worden waren. „Jugendliche wie Blüten im Garten“, wie sie voller Emotion kommentierte.

Ghonim, ein paar Stunden zuvor aus zwölftägiger Polizeihaft entlassen, konnte sich nicht mehr halten. „Allen Müttern und Vätern, die einen Sohn verloren haben, möchte ich sagen“, stammelte er, „es tut mir so leid, aber es war nicht unser Fehler. Es war der Fehler derer, die die Macht ausüben und sich an ihr festklammern.“ Unter Tränen rannte er aus dem Studio.

Doch auch das ist bezeichnend für die ägyptische Revolution der Jugend: Ihre Helden dürfen weinen. Am Tag nach diesem dramatischen Fernsehauftritt strömten mehr als 200 000 Menschen auf den Tahrir-Platz. Wael Ghonim erklomm unter Begeisterungsstürmen das Podium und feuerte sie an: „Dies ist euer Land. Dieses Land gehört einem jeden von euch.“ Die Machthabenden hätten Ägypten jahrzehntelang als ihr Eigentum betrachtet, damit müsse jetzt Schluss sein.

Der 30-jährige Aktivist ist in seinem Zivilberuf Marketing-Direktor des Internet-Riesen Google für die Nahost-Region. Sein Chefbüro hat er in der glitzernden Golfmetropole Dubai. In seiner Geburtsstadt Kairo studierte er Computerwissenschaften, Finanzen und Marketing. 2005 gründete er „mubasher.info“, heute eines der führenden Finanzportale der arabischen Welt. 2008 stieß er zu Google Nahost. Nachdem der Blogger Chalid Said im vergangenen Sommer in der ägyptischen Hafenstadt Alexandria beim Verlassen eines Internet-Cafés von zwei Geheimdienstschlägern zu Tode geprügelt worden war, begann sich Ghonim für seine alte Heimat politisch zu engagieren.

Auf der Internet-Plattform Facebook startete er die Kampagnenseite „Wir sind alle Chalid Said“ („We are all Khaled Said“). Sie wurde zu einer machtvollen Tribüne für die junge ägyptische Demokratiebewegung. Das Anlaufen der Straßenproteste ist diesem und ähnlichen Internet-Foren zu verdanken. Ghonim schien selbst nicht damit gerechnet zu haben, welche Energien er zu entfesseln half. Noch überraschter zeigte sich das Regime. „Wie habt ihr das geschafft?“, fragten ihn seine Peiniger immer wieder bei Verhören, wie er nach seiner Entlassung aus Polizei- und Geheimdiensthaft erzählte.

Seine Verschleppung begann am 28. Januar, als ihn Zivilagenten aus einem Taxi rissen. Es war am Tag, bevor überall die Sonderpolizei auf friedliche Demonstranten losgelassen wurde und landesweit fast 300 Tote zu beklagen waren. „Betet für Ägypten“, hatte Ghonim über die Internet-Plattform Twitter kurz vor seiner Festnahme die Welt zu alarmieren versucht. „Die Regierung scheint morgen ein Kriegsverbrechen gegen das Volk zu planen. Wir sind alle bereit zu sterben.“

Der Vater zweier Kinder kam am vergangenen Montag frei. Die Menschen, die der vielschichtigen Bewegung gegen das Regime angehören, sehnen sich nach Persönlichkeiten, mit denen sie sich identifizieren können, durch die sie sich repräsentiert fühlen. „Wir brauchen eine Symbolfigur, jemanden, mit dem jeder einverstanden ist - und er ist ehrlich, mutig, entschlossen“, meinte ein Demonstrant auf dem Tahrir-Platz.

Ob Ghonim zur Führungsfigur der Bewegung wird, ob er in eine solche Rolle hineinwachsen kann, ist noch unklar. Ein Held will er jedenfalls nicht sein. „Nicht ich bin hier der Held“, betonte er in dem Fernseh-Interview, noch vor seinem Tränenausbruch. „Die Helden sind die, die auf der Straße geschlagen und getötet wurden.“