„Juden geben sich nicht zu erkennen“

Interview Leonid Goldberg von der jüdischen Gemeinde über Antisemitismus im Bergischen Land.

Leonid Goldberg spürt auch im Bergischen Land Antisemitismus.

Foto: Fries, Stefan (fr)

Herr Goldberg, in Solingen findet an diesem Montag ein Kippa-Tag statt. Wie viele Mitglieder Ihrer jüdischen Gemeinde tragen im Altag diese traditionelle Kopfbedeckung der Juden?

Leonid Goldberg: Sichtbar und in der Öffentlichkeit macht das kein Einziger. Wer in unserer Gemeinde eine Kippa tragen will, der zieht einen Hut oder eine Baseballmütze darüber, wenn er das Haus verlässt.

Warum verstecken Sie die Kippa?

Goldberg: Unsere Rabbiner wurden mehrmals angespuckt und beleidigt, weil sie sich damit als Juden zu erkennen gegeben haben. Irgendwann haben wir dann in unserer Gemeinde beschlossen, die Kippa nicht mehr öffentlich zu tragen. Die Übergriffe auf Juden der letzten zwei, drei Jahre zeigen, dass diese Entscheidung richtig ist. Mittlerweile empfehlen alle jüdischen Gemeinden in Deutschland ihren Mitgliedern, keine jüdischen Symbole öffentlich zu tragen.

Haben die Anfeindungen gegen Juden in den vergangenen Jahren zugenommen?

Goldberg: Bei uns im Bergischen ist die Zahl der Übergriffe nicht gestiegen. Das mag aber auch daran liegen, dass sich Juden bei uns aus Vorsicht überhaupt nicht zu erkennen geben. Antisemitismus ist auch hier bei uns deutlich spürbar.

Der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung hat kürzlich davor gewarnt, öffentlich Kippa zu tragen. Was sagen Sie dazu?

Goldberg: Das kommt einer Bankrott-Erklärung der Bundesregierung gleich. Denn sie sagt damit, dass sie die Juden in Deutschland nicht schützen kann. Konsequenterweise müsste die Bundesregierung die Juden in Deutschland auffordern, aus Vorsicht das Land zu verlassen.

Klingt das nicht zu hart?

Goldberg: Ich finde nicht. Ich würde mir wünschen, dass die Bundesregierung die deutsche Bevölkerung zur Solidarität mit Juden auffordert, statt sie vor dem Tragen der Kippa zu warnen. Das wäre angemessen. Aber davon höre ich nichts.

Ist Ihre Sorge vor Übergriffen denn nicht möglicherweise unbegründet?

Goldberg: Bestimmt nicht. Schauen Sie doch einfach nur nach Köln. Dort hatte der Rabbiner kürzlich angekündigt, mit seiner Kippa öffentliche Verkehrsmittel nutzen zu wollen. Darauf wurde er heftig beleidigt und bedroht. Wissen Sie, was das Ergebnis ist? Er fährt jetzt vorsichtshalber mit seinem Auto statt im Bus.

Gibt es eine Gruppe, vor der Sie sich besonders sorgen?

Goldberg: Es gibt leider immer noch Neonazis in der Region, aber die sind eigentlich nicht mehr unser Problem. Wir sorgen uns mittlerweile wesentlich stärker vor den radikalen Muslimen.

Gibt es Zeiten, in denen diese Angst besonders ausgeprägt ist?

Goldberg: Ja, die gibt es. Immer dann, wenn aus dem Gazastreifen Raketen auf Israel geschossen werden und Israel zurückschießt. Dann spüren auch wir hier im Bergischen Land, dass sich der Hass gegen Juden entlädt.

Heute tragen in Solingen ein paar Männer während einer Solidaritätsveranstaltung in Solingen Kippa. Was halten Sie davon, wenn diese Mäner aus Solidarität eine ganze Woche Kippa im Alltag tragen würden?

Goldberg: Das bringt kaum etwas. Ich finde es aber hervorragend, dass diese Initiative für den Solinger Kippa-Tag nicht von der jüdischen Gemeinde ausgegangen ist, sondern vom Oberbürgermeister. Denn Antisemitismus ist zwar ein Problem, unter dem wir leiden. Aber es ist eigentlich nicht unser Problem. Es ist das Problem der Gesellschaft.

Wie entwickelt sich die jüdische Gemeinde Wuppertal, zu der auch Solingen und Remscheid gehören?

Goldberg: Wir haben derzeit rund 2200 Mitglieder. Wir werden aber langsam weniger. Leider ist die Sterberate höher als die Geburtenrate. Es gibt seit einigen Jahren auch keine Zuwanderung mehr. Die Jugendlichen gehen oft zum Studieren weg und kommen nicht mehr zurück. Ich befürchte, dass es in wenigen Jahrzehnten in Deutschland kaum Juden geben wird.

Haben Sie Angst als Jude im Bergischen Land?

Goldberg: Nein, ich habe keine Angst. Alle meine Freunde wissen, dass ich Jude und dass ich Vorsitzender der jüdischen Gemeinde bin. Allerdings: Auch ich trage in der Öffentlichkeit keine Kippa.

Was wünschen Sie sich von der deutschen Gesellschaft?

Goldberg: Die Gesellschaft sollte ihr öffentliches Bild von Israel überdenken. Viele Medien und Politiker in Deutschland stellen Israel als einen regelrechten Schurkenstaat dar. Der überwiegende Teil der deutschen Bevölkerung sieht in Israel automatisch Juden. Und wenn Israel so schlecht in den Medien dargestellt wird, wird dieser Eindruck sofort auf die hier lebenden Juden übertragen.

Sorgen Sie sich um das jüdische Leben ins Europa?

Goldberg: Ja, in Ländern wie Frankreich und Schweden verlassen die Juden aufgrund von Übergriffen bereits jetzt ihre Heimat und gehen nach Israel. In Deutschland ist das noch nicht der Fall. Aber viele machen sich schon Gedanken.