„Einer von uns“ Breivik-Autorin Seierstad: „Er fühlt sich klein“

Leipzig/Oslo (dpa) - Die norwegische Journalistin und Schriftstellerin Åsne Seierstad wird am 14. März mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2018 ausgezeichnet.

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Ihr Buch „Einer von uns. Die Geschichte eines Massenmörders“ über den Attentäter Anders Behring Breivik sei ein beeindruckender Versuch zu verstehen, begründete die Jury ihre Wahl. Breivik hatte im Juli 2011 77 Menschen getötet, die meisten waren Jugendliche, die auf der Insel Utøya an einem Sommerlager der Arbeiterpartei teilnahmen.

Das jüngste Buch der Norwegerin „Die Schwestern“ beschreibt zwei Schwestern, die freiwillig nach Syrien gehen, um sich dem Islamischen Staat anzuschließen. Im Interview der Deutschen Presse-Agentur erklärt die 48-Jährige, warum sie solch schwer zu durchdringende Themen wählt.

Frage: In der Begründung der Jury heißt es, Ihr Buch sei ein beeindruckender Versuch zu verstehen. War das auch Ihre Motivation, sich mit den Anschlägen vom 22. Juli zu beschäftigen?

Antwort: Ja, ich wollte herausfinden, wie das geschehen konnte. Wie es möglich war, dass dieser Typ, der sogar hier in der Nähe aufgewachsen ist, so eine schreckliche Terrortat begehen konnte. Es ist ja nicht so, dass er sich rächen wollte, weil ihm selbst Unrecht zugefügt wurde. Er ist einer von uns. Was also hat ihn dazu gebracht, dass er sein eigenes Land, seine eigene Regierung, diese Jugendlichen angreift? Das wollte ich gern verstehen.

Frage: Gilt das auch für „Die Schwestern“?

Antwort: Meine beiden letzten Bücher sind der Versuch, die zu verstehen, die Europa ablehnen. Das gilt für Breivik, der Europa angreift, auch wenn er vorgibt, er wolle Europa retten. Und das gilt für die beiden Mädchen, die nach Syrien gehen. Sie verneinen ja auch Europa, indem sie sich einer Terrorgruppe anschließen. Das ist ja etwas, was wir hier in Nordeuropa schwer verstehen können.

Frage: Und verstehen Sie Breivik jetzt besser?

Antwort: Ja, natürlich. An „Einer von uns“ habe ich zweieinhalb Jahre gearbeitet. Wir können uns nicht darauf beschränken, welcher Ideologie er sich angeschlossen hat. Wir müssen auch sehen, was ihn in seinem Leben dazu gebracht hat, dass er von so einem Reinheitsgedanken besessen war, von so einer faschistischen Ideologie. Warum er dachte: „Wenn ich nur die und die töte, wird alles gut. Wenn ich die ausmerze, können wir eine neue Gesellschaft aufbauen.“ Ich glaube, Breivik ist ein gutes Beispiel für fehlende Zugehörigkeit, fehlende Sicherheit, fehlende Bindungen. Er fühlt sich klein und will groß sein. Und er entwickelt so eine Idee, dass er eine ganze Armee hinter sich hat.

Frage: Sie haben ja auch mit vielen Opfern und Angehörigen gesprochen. Wie ging es Ihnen damit?

Antwort: Das war ein sehr emotionaler Prozess. Ich war zwischendurch sehr wütend und traurig, eigentlich eine Kombination von beidem. Ich habe viele Biografien der Opfer gelesen, und für mein Buch habe ich mich vor allem mit drei Schicksalen intensiv befasst. Diese Jugendlichen wurden ein Teil von mir, und dass sie nun weg sind, ist auch für mich ein Verlust.

Frage: Der norwegische Regisseur Erik Poppe hat die Ereignisse auf Utøya verfilmt, weitere drei Filmprojekte sind in Arbeit, unter anderem eines, das auf Ihrem Buch basiert. Was denken Sie darüber? Ist es zu früh?

Antwort: Nein, wie können wir als Gesellschaft sagen, das ist zu früh? Nur weil es unsere Tragödie ist? Wenden wir dieselben Kriterien an, wenn es um Tragödien in anderen Ländern der Welt geht? Ist es zu früh, einen Film über Syrien zu machen?

Frage: Sie haben Breivik nie selbst getroffen, auch die beiden Schwestern, die nach Syrien gegangen sind, nicht. Ist es nicht riskant, auf diese Weise über Menschen zu schreiben, die man nie getroffen hat?

Antwort: Beide Buchprojekte habe ich eigentlich mit dem Gedanken begonnen, dass ich die Hauptakteure treffen werde. Ich hatte um ein Interview mit Breivik gebeten, was er ablehnte. Und bei den Schwestern habe ich auch gedacht, die kommen bald nach Hause. Das war es, was der Vater die ganze Zeit sagte: Sie verstecken sich, sie sind unterwegs, sie werden bald fliehen. Erst nach einer Weile verstand ich: Die kommen niemals nach Hause. Also in beiden Fällen wurde es so, als wenn ich ein Buch über jemanden schreibe, der tot ist, auch wenn ich viele Dokumente hatte und mit den direkten Angehörigen sprechen konnte.

Frage: Nach Ihrem Bestseller „Der Buchhändler aus Kabul“ (2002) wurden Sie von den Protagonisten verklagt. Hat das Ihre Art zu Schreiben beeinflusst?

Antwort: Ja, ich bitte seitdem alle Interviewpartner zu autorisieren, was ich über sie geschrieben habe, abgesehen von Breivik und den beiden Schwestern natürlich. Ich habe Angst bekommen, dass jemand sagt: Das ist nicht, was ich gesagt habe.

Frage: Dieses Format, Roman basierend auf Fakten, ist eher ungewöhnlich in Deutschland ...

Antwort: In den USA und England ist das ein recht übliches Stilmittel, aber ich glaube, auch in Norwegen war mein Buch „Der Buchhändler aus Kabul“ das erste dieser Art. Mein Sprachstil ist wie in einem Roman, aber alles basiert auf Fakten, alles ist Journalismus, in Szenen rekonstruiert. Nicht alle meine Bücher sind so, aber ich finde, das ist eine spannende Art zu schreiben. Das erfordert sehr viel Recherche, aber es ist viel leichter zu lesen.

Frage: Alle Ihre Bücher thematisieren politische Konflikte, was fasziniert Sie daran?

Antwort: Das ist es, was unsere Zeit prägt. Die meisten Autoren schreiben über Konflikte, seien es persönliche oder politische. Wie Menschen mit neuen Situationen umgehen, wie Dinge sich ändern, das finde ich spannend.

ZUR PERSON: Åsne Seierstad, geboren 1970 in Oslo, gehört zu den renommiertesten Journalistinnen Skandinaviens. Als Korrespondentin und Kriegsberichterstatterin wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Für ihren Bestseller „Der Buchhändler aus Kabul“ (2002) beobachtete sie fünf Monate aus nächster Nähe den Alltag einer islamischen Buchhändlerfamilie. 2017 erschien „Zwei Schwestern: Im Bann des Dschihad“.