Europa-Politik: Intellektuelle gegen „Merkozy“
Berlin (dpa) - Sie sehen Europa vor dem Abgrund und möchten die Lösung der Eurokrise nicht mehr nur „Merkozy“ und ihren Beratern überlassen: Autoren und Philosophen aus Deutschland und Frankreich wollen eine europäische Debatte über die Zukunft der Union anstoßen - „gegen den Kleingeist der Gegenwart“.
In einem gemeinsamen Appell haben die französischen Starphilosophen André Glucksmann und Bernard- Henry Lévy sowie die deutschen Schriftsteller Hans Christoph Buch und Peter Schneider davor gewarnt, dass aus dem „Traum von Europa“ ein Alptraum für die Europäer werden könnte.
„Wir brauchen nicht mehr, sondern weniger Europa, nicht weniger, sondern mehr Demokratie“, heißt es in der Erklärung aus Berlin und Paris. Ob Hebel“ und „Rettungsschirm“, Bonds oder Fonds: „Die Entscheidungen über Milliarden betreffen die Existenz jedes Bürgers und das Wohlergehen der künftigen Generation.“
In ihrem Manifest erinnern die vier Autoren an eine Schriftstellerkonferenz vom Mai 1988 in Berlin. Damals hatten unter anderem Harry Mulisch, Susan Sontag und Horst Bienek in einem Brief an Ronald Reagan und Michail Gorbatschow die Politiker aufgefordert, sich gemeinsam für die Lösung der Probleme im noch geteilten Europa einzusetzen.
Diesen „Traum von Europa“ beschwört das deutsch-französische Literatenquartett nun wieder. Doch sie verzweifeln an ihren Kollegen. „Warum schweigen Europas Intellektuelle? Warum begraben sie ihre Ideale von gestern - soziale Marktwirtschaft, Demokratie und Ökologie - und lassen nur die Politiker reden?“, fragen sie in der Erklärung.
Tatsächlich sind Geisteswissenschaftler und Literaten - sonst oft sehr schnell bei Stellungnahmen zur Hand - ziemlich kleinlaut geworden, wie jüngst „Die Zeit“ feststellte. „Wo waren sie eigentlich, als Europa die Luft ausging?“, fragte die Wochenzeitung. „Warum schlugen sie sich in die Büsche, als es brenzlig wurde?“ Europa lasse unter den Intellektuellen eben keine Leidenschaft aufkommen.
In Talkshows und Expertenrunden kommen meistens Finanzexperten zu Wort. Es sei eine Debatte unter Technokraten, bei der es Intellektuelle schwer hätten, pragmatische Vorschläge zu machen, sagt der Schriftsteller Ilija Trojanow („Der Weltensammler“). „Und am Ende werden die Entscheidungen ohnehin von den Eliten getroffen.“
Doch einige Stimmen haben sich bereits zu Wort gemeldet. In Interviews und Artikeln hat Jürgen Habermas eine Ein-Mann-Kampagne gestartet. In einem blauen Suhrkamp-Band „Zur Verfassung Europas“ schwärmt Deutschlands prominentester Philosoph von einer Weltregierung. Nur so ließen sich die global entfesselten gesellschaftlichen Kräfte zähmen. Ein vereintes Europa wäre ein Schritt auf dem Weg zu einer politisch verfassten Weltgesellschaft.
Ähnlich hatte sich bereits Hans Magnus Enzensberger geäußert. In seinem Essay „Sanftes Monster Brüssel oder die Entmündigung Europas“, ging er heftig mit dem Demokratiedefizit der EU-Konstruktion ins Gericht. Enzensberger sieht die Gefahr, dass Europa wie jedes Imperium irgendwann wegen seiner inneren Widersprüchen implodiert.
Habermas ist optimistischer. Für ihn könnte die EU das Reagenzglas sein, in dem eine globale Demokratie ausprobiert wird. Doch dafür steht für den Philosophen unter anderem die schwarz-gelbe Koalition im Weg. „Die deutsche Bundesregierung ist zum Beschleuniger einer europaweiten Entsolidarisierung geworden, weil sie zu lange die Augen vor dem einzigen konstruktiven Ausweg verschlossen hat.“
Schon im Mai 2010 war der Soziologe Ulrich Beck in der Zeitschrift „Cicero“ zu einem ähnlichen Befund gekommen: Für Schwarz-Gelb, aber auch für große Teile der intellektuellen Elite, sei die Zeit gekommen, „Deutschland gegen Europa abzugrenzen und das deutsche Erfolgsmodell gegen die Übergriffe der eifersüchtigen europäischen Nachbarn zu verteidigen, die ihre Staatsdefizite mit dem Griff ins Portemonnaie der Deutschen kurieren wollten.“
Glucksmann und Lévy, Schneider und Buch sehen im Vormarsch linker und rechter Populisten die Gefahr einer Rückkehr zum Nationalstaat, zu einer eigenen Währung und zu geschlossenen Grenzen. Sie stellen den Mut der EU-Gründungsväter dagegen, die aus zwei Weltkriegen die richtigen Konsequenzen gezogen hätten.