„Gänsehaut und Lachanfälle“ - Altmanns „Scheißleben“

Graz (dpa) - „Wasser in Glaskugeln füllen, Meldung machen. Unkraut jäten, Meldung machen. Spüldienst, Meldung machen. Meldung machen! Meldung machen!“ Rastlos schichten vier Darsteller sinnlos Madonnenstatuen hin und her, machen schweißüberströmt Sit-ups, springen bis zur Erschöpfung über eine Bank.

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„Verschärfter Arbeitsdienst“ nennt das der Vater, als Strafe für den Sohn, der ihm Briefmarken gestohlen hat. Eine der absurd erschütternden Szenen am Mittwochabend in Graz in der bejubelten Uraufführung von „Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend“ von Oliver Kluck - nach der Autobiografie des vielfach ausgezeichneten Reporters Andreas Altmann.

Altmanns furios, derb und schonungslos offen beschriebene Jugenderinnerungen hatten bei Erscheinen 2011 Wirbel im deutschen Feuilleton entfacht. Da schrieb einer, mit der Distanz von Jahrzehnten, von einer erdrückenden Jugend in der katholischen deutschen Provinz, einer bigott, dumpf und lebensfeindlich erlebten Frömmigkeit, vor allem aber von einem Vater, der das Schicksal tausender Kriegsrückkehrer teilte: Die innere Zerstörung nicht mitteilen zu können und weitermachen zu müssen, als sei nichts gewesen.

Der Schriftsteller Oliver Kluck, aus Rügen stammender Bühnenautor mit Vorliebe für Wortwuchtiges (etwa „Die Froschfotzenlederfabrik“) und eine Generation jünger als der heute 64-jährige Autor Altmann, hat daraus eine dichte, intensive Theaterfassung geschaffen. Er vervielfacht die auftretenden Personen und macht so das Einzelschicksal allgemeingültig.

Die Schweizer Regisseurin Christina Rast greift den atemlosen Ton auf und verteilt den Text auf vier Darsteller, die abwechselnd in die Rolle des prügelnden Vaters, des gedemütigten Sohnes, der schwachen Mutter und der Brüder schlüpfen. Thomas Frank, Sebastian Klein, Florian Köhler und Franz Solar liefern einen knapp zweistündigen, verstörenden und schmerzhaften Parforceritt durch ein Dickicht aus Demütigungen, Kränkungen und Träumen.

Ausstatterin Fatima Sonntag setzt auf der in karges Schwarz gehaltenen Probebühne wenige Akzente: Ein zum Altar stilisierter Familientisch dominiert den Raum. Im Hintergrund angedeutete Arkaden, die einmal an einen Kreuzgang, dann an Schaufenster, ein anderes Mal an einen Beichtstuhl denken lassen. Devotionalien sind darin positioniert, Kruzifixe, Madonnenstatuen und ein Weihrauchfass.

Hier, im Zentrum der katholischen Frömmigkeit, mitten im Gnadenort Altötting in Oberbayern, ist keine Gnade zu spüren. Nicht, wenn der Vater - vordem bewunderter Sohn eines Ehrenbürgers, stolz, gutaussehend und intelligent, SS-Mann, Nazi, innerlich verwahrlost - aus dem Krieg zurückkehrt. Nicht, wenn dieser Vater wieder zum Grossisten unter den ortsansässigen Händlern für erbauliche Andenken, den Krieg in der Familie fortsetzt.

Den Drill, die Zerstörungswut, die Machtbesessenheit, den schneidenden Ton. Da setzt es Hiebe unter den zu Dutzenden aufgereihten Kruzifixen, da werden die Söhne zum „Arbeitsdienst“ eingesetzt, zum „Spüldienst“, zum „Paketdienst“. Da wird die Frau zum Vollzugsobjekt für die militärisch stramm absolvierten ehelichen Pflichten.

Dabei behält die Aufführung die Distanz Altmanns zum Geschehen bei, vermeidet mit ironischen Untertönen jegliches Selbstmitleid, kippt für Momente ins Absurde. Auftritt Spartakus als Pappkamerad, in Siegerpose, ein Ich jubelt: „Erstes erfolgreiches Onanieren. Fahrt nach Salzburg ins Freudenhaus. Leider geschlossen.“ Gelächter im Publikum. Sekunden später schnalzen wieder die Hosengürtel.

Das sehr gemischte Premierenpublikum reagierte am Mittwochabend mit Respekt und Begeisterung auf das schwer verdauliche Stück. „Ich hatte abwechselnd Gänsehaut und Lachanfälle“, sagt Kathrin Neuhold, Studentin aus Graz, nach der Uraufführung auf der Probebühne. Ihrem Partner, IT-Spezialist Mario Lamberger, imponierte das intensive Spiel: „Trotz der Gräuel sieht man, was er daraus gemacht hat, das geht ans Mark.“ Ein älteres Ehepaar aus Graz wirft ein, an eigene Erfahrungen erinnert worden zu sein: „Es war eine ganz andere Zeit. Heute hat man zum Glück einen anderen Zugang zu Religion.“