Hart an der Realität: Halbzeit beim Theatertreffen
Berlin (dpa) - Bissig, schrill und hart an der Realität: So präsentiert sich das 48. Berliner Theatertreffen zur Halbzeit. Egal ob Staatstheater oder Off-Ensemble, Klassiker oder zeitgenössische Dramatik - mit experimentellen Stilformen fordern fast alle bislang gezeigten Inszenierungen die Zuschauer auf, über ihre Lebensentwürfe und ihr Alltagsverhalten nachzudenken.
Ganz offen und direkt sprechen die Mitglieder des freien Berliner Performance-Ensembles She She Pop das Publikum mit ihrer bejubelten Shakespeare-Auslegung „Testament“ an. Angelehnt an die Erb-Praxis bei König Lear verhandeln die Schauspieler und ihre echten Väter auf der Bühne über begehrte Erbstücke, Pflegebedürftigkeit und würdiges Altern. Da gibt es wohl kaum jemanden im Publikum, der nicht schon einmal über solche Fragen nachgedacht hätte.
Mitten hinein ins Leben springt auch die zweite Berliner Inszenierung, die als eine der insgesamt zehn „bemerkenswertesten“ Produktionen der Saison zum Festival eingeladen wurde. Grell, satirisch und nie langweilig erzählt das Ensemble vom Ballhaus Naunynstraße in „Verrücktes Blut“ von einer aufmüpfigen Multikulti-Schulklasse, die von einer überforderten Lehrerin mit einer Pistole in Schach gehalten wird. Regisseur Nurkan Erpulat ist mit dem von einem französischen Film mit Isabelle Adjani inspirierten Stück ein Plädoyer für die Individualität gelungen, das weit über die sogenannte Migrantenproblematik hinaus geht.
Kaum an Bissigkeit und ironischem Kommentar zur politischen Lage zu überbieten war die bejubelte Eröffnungsinszenierung: Karin Beier und das grandiose Ensemble des Schauspiels Köln zeigten Elfriede Jelineks Katastrophen-Trilogie „Das Werk/Im Bus/Ein Sturz“. Nicht ganz überzeugen konnte dagegen die zweite Kölner Produktion: Als Gegenentwurf zu den vielen verkopften, schwelgerischen Tschechow-Inszenierungen brachte Karin Henkel einen ziemlich überdrehten, zugespitzten „Kirschgarten“ mit reichlich Slapstick auf die Bühne - keine wirkliche Alternative.
Gemischte Reaktionen gab es auch auf Herbert Fritschs ebenso konsequent gegen den Strich gebürstete Klassiker-Inszenierung „Der Biberpelz“. Der ehemalige Berliner Volksbühnen-Schauspieler formierte die Schauspieler vom Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin zu einer schrillen, wilden, fratzenhaft geschminkten Truppe - Hauptmanns sozialkritische Komödie als Groteske. Viel gediegener ging es bei Schillers „Don Carlos“ in der am Staatsschauspiel Dresden entstandenen Version von Roger Vontobel zu: Die modern im Manager-Milieu, aber ganz nah am Text inszenierte Aufführung mit Filmstar Burghart Klaußner als König Philipp fesselte das Publikum über ihre gesamten dreieinhalb Stunden.
Bis zum 23. Mai wird beim Theatertreffen noch gespielt. Auf dem Programm stehen noch einmal Fritsch mit seiner Interpretation von Ibsens „Nora oder ein Puppenhaus“ (Theater Oberhausen). Außerdem Kathrin Rögglas „Die Beteiligten“ (Burgtheater Wien) in der Regie von Stefan Bachmann sowie Stefan Puchers Inszenierung von Millers „Tod eines Handlungsreisenden“ (Schauspielhaus Zürich). Zum Abschluss ist „Via Intolleranza II“ des im vergangenen Jahr gestorbenen Christoph Schlingensief zu sehen.