Monster oder Märtyrer?

Das Düsseldorfer Schauspielhaus zeigt Juli Zehs Stück „Good Morning, Boys and Girls“ zum Thema Amoklauf.

Düsseldorf. Die Welt ist aus Pappe. Wie in einer riesigen Bastelstube stapeln sich Kartons auf der Bühne, aus denen die Schauspieler alle Requisiten herstellen: Computer, Bücher, Overheadprojektor, Telefone - und die Waffe, die beim Amoklauf in der Schule die Lehrerin wie auch die Schüler dahinmetzeln wird.

"Good Morning, Boys and Girls" nennt sich Julie Zehs Auseinandersetzung mit dem Thema Amok, die nun im Kleinen Haus des Düsseldorfer Schauspielhauses uraufgeführt wurde.

Die Tat ist zu Beginn des Stücks bereits geschehen, nun werden die Ereignisse aufgerollt, kommen alle Beteiligten zu Wort. Regisseur Stephan Rottkamp schafft es, dem vielschichtigen Kaleidoskop eine spielerische und verständliche Struktur zu verleihen.

Denn Juli Zeh verschränkt geschickt die Ebenen zwischen Realität, Virtualität und medialer Aufbereitung, um sich facettenreich dem Amoklauf als gesellschaftlichem Problem zu nähern. Die Bühne von Robert Schweer spiegelt das Gefühl von Chaos und Verlorensein.

Jens (Denis Geyersbach), der sich passenderweise Cold (kalt) nennt, ist ein frustrierter Jugendlicher, dem das Leben wie eine Kopie, wie Karaoke und wie "eine allumfassende Verarsche" vorkommt. Er plant den Amoklauf, immer unter dem strengen Blick eines kleinen Kindes mit Sturmmaske, einem Alter Ego, das ihm als "Amok" zur Seite stehen soll.

Das Umfeld des 16-Jährigen zeigt nichts Auffälliges: Die Eltern (Wolfram Rupperti, Christiane Rossbach) sind gepflegte Galeristen, die die Schuld der Ereignisse bei sich suchen: "Warum?" fragt die Mutter hilflos wie ein Roboter und erklärt: "Er war ein so liebes Kind."

Auch in der Schule lassen sich keinerlei Hinweise auf Jens’ Entwicklung finden. Seine Lehrerin (Claudia Hübbecker) ist freundlich und verständnisvoll. Sie sieht in ersten Gewalttendenzen ihres Schülers nur die Entwicklung seines kreativen Potenzials.

Selbst während des finalen Gemetzels in der Schule, als ihr das Blut in (Papp-)Strömen aus dem Körper fließt, meint sie, es handele sich um ein ungeheuer realistisches Videoprojekt der Schüler. "Die Einbildung erscheint als das Wirkliche", zitiert sie einmal Ernst Jünger.

Erst als Jens seine Mitschülerin Susanne (Lisa Arnold) kennenlernt und sich Nähe zwischen den beiden Außenseitern entwickelt, scheint eine Alternative zum Amoklauf möglich. Jens vernachlässigt seine virtuellen Spielpartner im Internet zugunsten der Freundin aus Fleisch und Blut.

Märtyrer, Monster oder Muttersöhnchen? Versager, Schulverweigerer, Einzelgänger? Welche Schuld trifft die Eltern, dass ihr Kind so geworden ist? Was haben Computerspiele und Gewaltfilme dazu beigetragen? Alle Erklärungsversuche müssen zwangsläufig zu kurz greifen.

Juli Zeh stellt viele Fragen, ist aber nicht so vermessen, sie beantworten zu wollen. Letztlich gibt sie Einblicke in eine ganz normale moderne Familie mit etwas egoistischen Eltern und einem einsamen Kind, das Rat und Trost sucht in einer Welt, in der tradierte Werte verloren gegangen sind. Dass das kluge Stück am Ende auf einmal eine ganz andere Wendung nimmt, zeigt geschickt, wie man jemanden vorschnell verurteilen kann.