Theatermacher Kroesinger seziert den Krieg
Sarajevo (dpa) - Zu Beginn des Abends tritt Autor und Regisseur Hans-Werner Kroesinger vor das Publikum und warnt vor hochgesteckten Erwartungen.
„Sie werden heute keine fertige Aufführung sehen. Wir haben uns hier in Sarajevo eine Woche mit Dokumenten zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs befasst. Wir sortierten sie nach dem Gesichtspunkt: Was ist für uns nützlich, was nicht? Sie können für sich entscheiden: Was ist für Sie nützlich, was nicht?“
Die Projekt-Präsentation „1914/2014 - Schlachtfeld Erinnerung“ beeindruckte am Freitagabend im Sarajevo-Kriegstheater (Sarajevski ratni teatar/SARTR) dennoch, kraft ihrer Schlichtheit und Intensität. Die beiden Schauspieler, der Österreicher Armin Wieser und der Bosnier Benjamin Bajramovic, sitzen auf der Bühne an einem Tisch, auf dem sich Bücher und Skripten stapeln. Sie lesen daraus, deklamieren, gehen mal ins Publikum damit, sie spielen mit den Texten.
Es sind unterschiedliche Zeitdokumente, die den Ausbruch des Ersten Weltkriegs begleiten. Hier, in Sarajevo, steht naturgemäß das Attentat des bosnischen Serben Gavrilo Princip am 28. Juni 1914 auf den österreichischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand im Mittelpunkt. Bosnien und Herzegowina waren damals Teil der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie. Über die Bluttat des Gymnasiasten Princip wird selbst heute noch gestritten: War sie der bloße Anlass für einen ohnehin in der Luft liegenden Weltkrieg oder hat sie diesen doch mehr oder weniger ursächlich ausgelöst?
Kroesinger und seine Ko-Autorin Regine Dura legen sich weder in dieser noch in anderen Reizfragen der diversen „Erinnerungsschlachten“ fest. Sie konfrontieren die Zuseher mit dem, was sie gefunden haben. Wieser und Bajramovic lesen - synchron auf Deutsch und Bosnisch - einen Text vor, der den Anarchisten Bogdan Zerajic als Helden des Befreiungskampfes gegen die Habsburger-Herrschaft feiert. Zerajic hatte im Juni 1910 einen Anschlag auf den österreichischen Statthalter in Sarajevo versucht, verfehlte diesen aber mit seinen Schüssen und jagte sich die letzte Kugel selbst in den Kopf. Gavrilo Princip war von diesem Text als 16-Jähriger entflammt und radikalisiert worden.
Ganz unterschiedliche Dokumente finden Eingang in die Performance: Zeitungsartikel, die den Krieg als „reinigende Kraft“ verherrlichen; Auszüge aus Stefan Zweigs Erinnerungen „Die Welt von gestern“; ein Bericht über die blutige Eroberung Sarajevos durch die Österreicher im Okkupationsfeldzug 1878; das dadaistische Gedicht „Schützengraben“ von Ernst Jandl. Kroesinger und Dura präsentieren eine präzise Vivisektion der Haltungen und Mentalitäten, die diesen Krieg ermöglichten.
Die beiden Darsteller unterscheiden sich in Gestus und Naturell stark voneinander, was die Abgründigkeiten der Texte noch schärfer hervortreten lässt. Der ältere Wieser macht, wenn auch leicht ironisch gebrochen, ihren Pathos nachvollziehbar. Bajramovic, jünger und von eher bohèmehaftem Äußeren, trifft mit seinem lakonischen Zugang den Nerv. An einer Stelle spielt er mit Schachteln und Bleistiften eine aufgrund von Zeugenaussagen rekonstruierte Episode des Attentats von Sarajevo nach, den Bombenwurf eines Mitverschwörers, der den Schüssen Princips vorausgegangen war - großer Slapstick mit minimalen Mitteln.
„Uns geht es immer wieder darum: Was war davor?“, erklärt Kroesinger anschließend im Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa. „Die Texte, aber auch die Performer bringen unterschiedliche Perspektiven ein.“ Die Deutung bleibe den Zusehern überlassen.
Die Werkstattaufführung in Sarajevo war die dritte Station eines Projekts, das mit Arbeiten in Belgrad und Istanbul begann. An diesen waren serbische beziehungsweise türkische Darsteller beteiligt. Am 10. Juni sollen diese Werkschauen im Hebbel am Ufer (HAU) in Berlin zu einer Synthese zusammengeführt werden, mit den Beteiligten der bisherigen Stationen. Was dann auf der Bühne zu sehen sein wird, wissen Kroesinger und Dura noch nicht: „Das wird dann neu verhandelt, und das ist ja das eigentlich Spannende.“