Doku-Serie „Colonia Dignidad“: Einblick in eine deutsche Sekte
Düsseldorf · Die Mitglieder von „Colonia Dignidad“ werden in Chile jahrelang misshandelt. Eine Doku-Serie berichtet über den Alltag.
Die Kinder werden von den Eltern getrennt und von „Tanten“ und „Onkeln“ aufgezogen. Frauen und Männer müssen den Blick senken, wenn sie sich begegnen. Sex und auch Selbstbefriedigung gelten als Todsünde. Die Bewohner, auch die Kinder, müssen sieben Tage in der Woche hart arbeiten und werden nicht bezahlt. Jederzeit drohen willkürliche Misshandlungen. Der Missbrauch von Jungen ist an der Tagesordnung.
Doch in der abgelegenen „Kolonie der Würde“ stellen nur Wenige die würdelosen Regeln infrage. Abgeschnitten von der Außenwelt, wissen die meisten nicht, dass es da draußen andere Lebensformen gibt. Dass es richtig sein kann, die Anweisungen des sich selbst als gottähnliches Wesen inszenierenden Anführers anzuzweifeln. Gegen Zwangsarbeit und Misshandlung aufzubegehren. Und als Kind Sex mit dem Meister nicht ertragen zu müssen. Arte und wenig später die ARD zeigen nun eine Doku-Serie, die sich mit den Umständen dort beschäftigt.
Die „Colonia Dignidad“ in Chile, Mitte der 1960er Jahre von Anhängern des selbst ernannten Predigers Paul Schäfer gegründet, war ein fast 40 Jahre währendes, monströses Menschenexperiment. Da sind 208 Film-Minuten (oder 180 wie in der gekürzten ARD-Version) gerade genug, um die komplette Entwicklung von den Anfängen in den 1950er Jahren in Heide bei Siegburg bis zur Verhaftung Paul Schäfers 2005 in Argentinien und dem Leben der Kolonie danach zu erfassen. Annette Baumeister und Wilfried Huismann, die Autoren der ebenso bedrückenden wie fesselnden dokumentarischen Serie „Colonia Dignidad“, konnten auf 400 Stunden Filmmaterial zurückgreifen, gedreht von den Bewohnern selbst.
Außerdem sprechen mehrere Frauen und Männer zum ersten Mal in ausführlichen Interviews über den Alltag und ihre persönlichen Geschichten. Aus den seltsam ferngesteuert wirkenden Sekten-Anhängern, die ab und zu in Fernsehberichten zu sehen waren, werden Menschen aus Fleisch und Blut, deren Schilderungen erst die Dimension der Gewaltherrschaft nachvollziehbar machen.
Wie Esther Müller, die im Alter von fünf Jahren von ihren Eltern getrennt wurde. Die als Mädchen nächtelang von Schäfer verhört wurde. Die als Krankenschwester im Kolonie-eigenen Krankenhaus arbeitete und wenigstens dort im Umgang mit kranken Kindern aus der Umgebung etwas Zuneigung erlebte. Sonst war jede Berührung verboten. Heute sagt sie: „Ich weiß gar nicht, ob ich meine Mutter jemals umarmt habe.“ Oder wie Willi Malessa. Irgendwann greift er unter das Sofa, auf dem er sitzt, und holt einen dicken, langen Stock hervor. Er nennt ihn sein „privates Museum“: „Das ist das einzige Teil, das erklären kann, warum man alles aushält, was da so passiert.“
Malessa war schon als kleiner Junge in Deutschland von Schäfer missbraucht worden und gehörte mit elf Jahren zu den Ersten, die nach Chile flogen, um die Kolonie zu errichten. Als Erwachsener wurde er Bauleiter des Goldbergwerks. Er und Edeltraud Bohnau, die ebenfalls in der Kolonie aufgewachsen war, durften sogar heiraten. Allerdings wurden ihnen die beiden Kinder nach der Geburt ebenfalls entzogen. Über das Wiedersehen Jahre später sagt Edeltraud Bohnau: „Erstmal haben sie gefragt, was Eltern sind.“
Willi Malessa verliert im Film nur einmal die Fassung: als er berichtet, wie er auf Anweisung Schäfers die Leichen der chilenischen Oppositionellen ausgrub, die während der Pinochet-Diktatur von der Geheimpolizei und offenbar auch von Schäfers Vertrauten in der Kolonie gefoltert und ermordet wurden. Ihre Leichen seien verbrannt und die Asche im Fluss verstreut worden, heißt es.
Mit Kurt Schnellenkamp (mittlerweile verstorben) und Karl van den Berg äußern sich auch Vertraute Schäfers, die beide von chilenischen Gerichten verurteilt wurden. Außerdem vor der Kamera: überlebende Chilenen, die dort Opfer der Folter oder als Kinder missbraucht wurden. Und Wolfgang Kneese, der bereits nach seiner Flucht 1966 dafür sorgte, dass die damaligen Zustände in der Kolonie öffentlich bekannt wurden.
Doch dank Schäfers guter Kontakte zu den chilenischen Behörden und eines konstanten Wegschauens der deutschen Politik existierte die als wohltätiger Verein getarnte Kolonie noch Jahrzehnte weiter. Paul Schäfer und seine Spießgesellen produzierten und handelten auch mit Waffen, organisierten gar für die Diktatur Ausrüstung für eine biologische Kriegsführung. Ein „Reich des Horrors“, wie es zu Beginn etwas plakativ aber zutreffend heißt. Die imposante Doku-Serie entlarvt die Propaganda der Kolonie und enthüllt das beschämende Versagen der Politik.