„Computerspieler geben die Wirklichkeit auf“
Merlin Baum von der Hochschule Düsseldorf fürchtet, dass die Studenten zu Konsumenten der Technologie werden — und die Realität durch die VR-Brille sehen.
Düsseldorf. Die Spielemesse Gamescom in Köln war ein gewaltiger Erfolg. Fast eine halbe Million Gaming-Interessierte schubsten und drängelten sich dort vor den Geräten. Zeitweilig glich selbst der Düsseldorfer Hauptbahnhof einer einzigen Menschenmasse, die sich auf die Züge nach Köln-Deutz stürzte. Der Branchenverband schreit inzwischen danach, der Bund solle sich finanziell beteiligen. Und die Politik reist gern an, um sich als modern zu präsentieren und den Geldsegen zu versprechen. Der Düsseldorfer Merlin Baum hingegen gehört zu den Menschen, die die Entwicklung eher kritisch sehen.
Obwohl er als Jugendlicher gern und oft Computerspiele gemacht hat, sagt er jetzt: „Ich sehe keinen Sinn mehr, in einer virtuellen Welt herumzulaufen und Leute abzuschlachten. Denn das ist häufig der Inhalt von derlei Spielen.“ Nun ist der 34-Jährige nicht irgendein Skeptiker, der über den Konsum der jungen Generation meckert, Merlin arbeitet im Zentrum für Weiterbildung und Kompetenzentwicklung an der Hochschule Düsseldorf. Er ist Fachmann in der digitalen Datei, im 3D-Druckverfahren und im computer-gesteuerten Fräsen. Er arbeitet interdisziplinär, ist also keinem Fachbereich untergeordnet.
Baum ist aus der Hochschule hervorgegangen, als sie noch Fachhochschule hieß. Hier hat er Kommunikations-Design studiert, den Bachelor und den Master gemacht. Er beschäftigt sich mit „Interface“, der Schnittstelle von Mensch und Computer. Wie bedient der Mensch die Technik? Aber Baum fragt auch, was die Technik mit dem Menschen macht.
Seit drei Jahren ist er in der Lehre tätig und registriert, wie sich viele Studenten verändern: „Ich merke, dass sie immer mehr überfordert sind. Sie sind zugedröhnt vom Internet. Das aufzubrechen, wird immer schwieriger. Als ich studierte, musste ich mir die Sachen selbst beibringen. Die heutige Jugend ist wie gelähmt, weil es schon alles gibt. Ich sage immer, dass es die Malerei seit Jahrhunderten gibt, und immer noch gibt es Maler.“
Der Pädagoge fürchtet, dass die Leute den neuen Technologien verfallen. Die Jugend sei natürlich begierig auf alles Neue, aber sie müsse sich überlegen, ob sie die einfachen Sachen nicht auch mit der Hand machen kann. Merlin warnt: „Die virtuelle Realität bedeutet ja, dass ich die Realität ausschalte. Ich setze mir eine VR-Brille auf und bin in einer anderen Welt. Das kann dazu führen, die Dingwelt aufzugeben und sich mit einer Kopie der Wirklichkeit zu begnügen.“
Baum bringt den Studenten die Technologie bei, aber fordert sie auch auf, ihre Grenzen auszuloten. Auch in den sozialen Medien sieht er die Gefahr, die Realität zu vernachlässigen. Er sagt: „Da sitzen die Leute auf dem Sofa und diskutieren in den sozialen Medien. Sie würden nie mit einem Menschen realiter reden. Sie brauchen den Moment des Anonymen. Im täglichen Leben sind sie eher stumm.“
Deshalb stehen derzeit Bildschirme im Windfang des NRW-Forums, die den Besucher zur Interaktion auffordern. Er wird herausgefordert, einen Kommentar zur Ausstellung abzuliefern.
Der junge Student von heute, so Baums Erfahrung, ist innovationshungrig. Er will am liebsten eine Start-up-Firma gründen und Geld verdienen. Er sollte aber die Technologie reduzieren, zu einfachen Materialien zurückkehren und immer zugleich die Sinnfrage stellen. Wer nicht der Maschine verfallen will, muss sie beherrschen — oder zumindest hinterfragen.
Im NRW-Forum gab es 2016 ein VR-Dinner, organisiert von Merlin Baum und seinem Bruder Aaron Baum. Dabei ging es um die Frage, was passiert, wenn die Virtual-Reality-Technik auf das sehr reale, körperliche Bedürfnis von Nahrung stößt. Schmeckt die Dame mit der VR-Brille auf dem Kopf überhaupt noch den Wein, den man ihr vorsetzt? Sie sei zumindest so abgelenkt gewesen, meinen die Brüder Baum, dass sie den Wein trank, ohne über seine Qualität nachzudenken.
Deshalb betont der Wissenschaftler: „Mir geht es ums Haptische. Ich umgehe die Programmierung, also den Markt, indem ich meine eigene Umgebung schaffe.“ Vom Nachwuchs fordert er daher in erster Linie Logik. Er bringe den Studenten den eigenen Zugang zum Computer bei, damit sie eben nicht abhängig vom Markt und von der Spiele-Industrie sind, sondern selbst kreativ werden. Als er vor knapp einem Jahr ein Kreativ-Seminar im NRW-Forum abhielt, gab es einen kleinen Schlaumeier, der ein Billardspiel schuf, bei dem es lauter Zaubersprüche gab, wenn er die Kugeln in die Löcher stieß.
Nur dort, wo der Mensch auf die Technik trifft, geschieht etwas. Wo die Technik alleingelassen ist, passiert nichts.
Sein eigenes Aha-Erlebnis hatte Baum in seinem Atelier in der Düsseldorfer Jahnstraße. Sobald er an einer sehr prosaisch wirkenden Lampe mit weißer Tülle vorbeiging, ging das Licht an. Seine Erkenntnis: „Ich muss mich bewegen und einen Windhauch erzeugen. Nur dann wird der Stromkreis geschlossen und die Lampe leuchtet.“ 324 Lampen hängte er daraufhin 2015 im Museum Bochum auf. Ging ein Besucher unter der Decke mit den Hängelampen vorbei, wurde es extrem hell. War niemand im Raum, blieb es stockdunkel.
Der Pädagoge spricht von einem „kinetischen Licht-Interface“ und erklärt: „Interface entsteht durch den Kontakt des Menschen mit dem Apparat, in diesem Fall mit den Lampen.“ Interface habe mit der Berührung von Oberflächen zu tun. Aber die Berührung sei immer etwas Haptisches. Darum gehe es letztlich.