Mit den Augen eines Kindes
Ein kluges und wehmütiges Meisterwerk: Spike Jonze verfilmt Maurice Sendaks „Wo die wilden Kerle wohnen“.
Wenn man die Fähigkeit, sich manchmal wie ein Kind zu fühlen, noch nicht ganz abgestreift hat, erlebt man immer wieder Momente, die wie eine Zeitmaschine wirken. Plötzlich weiß man wieder, wie sich das Kleinsein anfühlte. Alles um einen herum war groß, weit entfernt, eigentlich unerreichbar. Die Zeit kroch, die Eltern schienen furchtbar alt, man selber unverletzlich, selbst wenn man wie am Spieß schrie, nur weil man sich das Knie aufgeschlagen hatte.
Max, der Held aus Maurice Sendaks Kinderbuchklassiker "Wo die wilden Kerle wohnen", ist genau in diesem Alter, in dem sich alles nur um einen selbst dreht. Es ist ein paradiesischer Zustand, aus dem ihn die Erwachsenen, mit denen er zusammenleben muss, immer wieder vertreiben, weil sie eigene Sorgen haben. Max hat dafür kein Verständnis und flüchtet sich gedanklich in eine andere, vermeintlich bessere Welt. Regisseur Spike Jonze ("Being John Malkovich"), einer der letzten echten Tagträumer Hollywoods, hat für diese Fantasien überwältigende Bilder gefunden - verschroben, assoziativ und unvollkommen, so wie Kinder nun mal ticken.
In Max (Max Records) wüten unterschiedlichste Gefühle, die er nicht einordnen kann: Seine Eltern haben sich getrennt, seine Mutter (Catherine Keener) muss wieder arbeiten, seine große Schwester findet gleichaltrige Jungs plötzlich interessanter. Zwar ist er eines dieser Kinder, die sich mühelos mit sich selbst beschäftigen können, trotzdem ist sein lautes, unbändiges Spiel ein verzweifelter Schrei nach Aufmerksamkeit: In seinem Kinderzimmer, nein, im ganzen Haus herrscht pure Anarchie. Es wird gebrüllt und gerannt und geboxt und gefallen und gelacht.
Seine Mutter weiß, was Max im Innersten bewegt, deswegen lässt sie ihm mehr durchgehen, als gut für ihn ist. Als sie aber doch einmal die Fassung verliert, flüchtet sich der Junge tief getroffen an den nahe gelegenen Fluss - und stellt sich vor, einfach davon zu segeln, weit weg, zu der Insel, wo die wilden Kerle wohnen.
Jonze und sein Co-Autor Dave Eggers haben bei der Adaption von Sendaks Geschichte, die im Original aus nicht mehr als 350Wörtern besteht, alles richtig gemacht. Die Wesen, denen Max in seiner Fantasie begegnet, sind unberechenbare Sonderlinge, groß, grobschlächtig, unförmig, mit einem intuitiven Sinn für sozialen Zusammenhalt, aber ohne die Fähigkeit, dieses familienähnliche Gefüge auch zu pflegen. An ihrer Widersprüchlichkeit merkt Max, dass Regeln nicht nur nerven, sondern auch notwendig sein können.
Jonze hat mit seiner Regiearbeit ein kleines Kunststück vollbracht. Er verzichtet auf aufwändige Animationen oder bunt berstende Bildgewitter, die in modernen Kinderfilmen häufig das Einschalten der eigenen Fantasie verhindern. Stattdessen sieht er die Welt mit den Augen eines Kindes - und lässt die Zuschauer daran teilhaben.
Wertung: 5 von 5 Punkten