Tragikomisches Kinomärchen triumphiert in Venedig
Venedig (dpa) - Selbst beim größten Erfolg seiner Karriere bleibt der Schwede Roy Andersson bescheiden. Der 71-Jährige hat gerade den Goldenen Löwen gewonnen, und doch denkt er zuerst an andere.
„Es ist eine große Ehre, diesen Preis hier beim Filmfestival von Venedig in Italien zu bekommen“, sagt er mit der Trophäe in der Hand. „Ein Land, das schon viele Meisterwerke der Filmgeschichte hervorgebracht hat. Sie haben mich sehr beeinflusst, ohne sie wäre ich heute kein Regisseur.“ Nicht nur die Italiener im Galasaal applaudieren da gerührt.
Schon der Titel seines Gewinnerfilms „A Pigeon Sat on a Branch Reflecting on Existence“ hatte etwas Ungewöhnliches versprochen. Eine Taube, die über ihre Existenz sinniert? Das klang philosophisch und schräg zugleich - wurde es dann auch, allerdings ohne Vogel im Mittelpunkt. Stattdessen treiben in der deutschen Koproduktion verlorene Menschen durchs Leben. Einsam, traurig, sehr melancholisch.
Und doch feiert „En duva satt på en gren och funderade på tillvaron“ - so der Originaltitel - den lakonischen Humor und die große Leinwand. Andersson gliedert seinen Film in 39 perfekt durchchoreografierte Szenen, jede aus einer festen Perspektive mit einer starren Kameraeinstellung gefilmt. In mühevoller Arbeit bis zur Perfektion geprobt, wird jede Sequenz ein Kunstwerk für sich. Zusammen ergeben sie ein Kinomärchen, das episodenhaft Kunst und Alltag verbindet.
Ähnlich einprägsam, wenn auch mit ganz anderen Mitteln, war die Dokumentation „The Look of Silence“. Der Film des US-Amerikaners Joshua Oppenheimer zeigt, wie die Massaker an vermeintlichen Kommunisten nach dem Militärputsch Mitte der 1960er Jahre die indonesische Gesellschaft noch immer traumatisieren. „Dies ist ein Meisterwerk“, sagte Jurymitglied Tim Roth sichtlich gerührt bei der Preisverleihung. „Es ist eine außergewöhnlich Erfahrung, diesen Film zu sehen.“ Dafür gab es den Großen Preis der Jury, die zweithöchste Auszeichnung des ältesten Festivals der Welt.
Diese beiden Hauptgewinner hatten nicht nur zu den Favoriten gehört, sie spiegeln auch den Schwerpunkt des diesjährigen Wettbewerbs wider. Darin hatten sich die Regisseure vor allem an Düsterem und Dunklem abgearbeitet, an Krisen und Kriegen, an menschlichen Ausnahmesituationen. Was diesen insgesamt sehr starken Wettbewerb aber auch ausmachte, war, dass viele Filmemacher eine oft sehr einprägsame Erzählform fanden.
Wie etwa der Russe Andrej Kontschalowski. Sein „The Postman's White Nights“ war ebenfalls ein spannendes Experiment: Die Bewohner eines Dorfes irgendwo in Russland spielen sich selbst, doch die Geschichte folgt auch einer gewissen Dramaturgie. So entsteht ein Spagat, bei dem die Grenzen zwischen Dokumentation und Fiktion verschwimmen. Zu Recht mit dem Silbernen Löwen für die beste Regie ausgezeichnet.
Mit Spannung war auch Fatih Akins Drama „The Cut“ erwartet worden. Doch dann enttäuschte der Beitrag über das Schicksal Hunderttausender Armenier im Osmanischen Reich scheinbar nicht nur die Kritiker - Akin ging bei der Preisverleihung leer aus. Dennoch bedeutet die Juryentscheidung auch ein Erfolg für das Filmland Deutschland, das sich immer mehr als wichtiger Produktionspartner für internationale Werke etabliert.
Nicht nur der Löwengewinner entstand mit finanzieller Unterstützung aus Deutschland, auch der Spezialpreis der Jury ehrt eine deutsche Koproduktion: „Sivas“ des in der Türkei geborenen, aber seit langem in Berlin lebenden Kaan Müjdeci. Sein Drama um einen Jungen und dessen Kampfhund in einem türkischen Dorf war nicht nur der einzige Debütfilm des Wettbewerbs. Müjdeci war mit 33 Jahren auch der jüngste Filmemacher im Löwen-Rennen.