Kultur der Minoer: Die rätselhaften ersten Druckzeichen Europas
Die Bildzeichen auf der Scheibe sind weder echte Buchstaben noch echte Hyroglyphen.
Kreta. Alle wesentlichen Hochkulturen, die im Laufe ihrer Entwicklung bis zur Erfindung der Schrift vorgestoßen sind, haben irgendwann die Wahl zwischen zwei Aufzeichnungsmöglichkeiten treffen müssen. Um das Wort „Haus“ schriftlich festzuhalten, kann man entweder den „europäischen“ Weg gehen und es in den Buchstaben H-a-u-s aufschreiben, oder aber man zeichnet ein Haus beziehungsweise ein Symbol-Zeichen, so wie die Ägypter es in ihren Hyroglyphen taten, auch asiatische Schriftzeichen funktionieren so.
Auf den ersten Blick sind die Symbole auf dem „Diskos von Phaistos“ weder das eine noch das andere. Insgesamt befinden sich auf dem Diskos 242 Zeichen; 123 auf der sogenannten Vorderseite „A“ (siehe Abbildung), 119 auf der mutmaßlichen Rückseite. Dabei handelt es sich um 45 verschiedene Zeichen, die in 31 Gruppen auf der A-Seite und 30 auf der B-Seite angeordnet sind.
Die einzelnen Zeichen kommen in den 61 Gruppen unterschiedlich häufig vor: So ist der nach rechts blickende „Irokesen-Kopf“ (Zeichen Nr. 2, siehe Tabelle) gleich 19-mal vertreten. Viermal kommt die sonnenartige Rosette (Zeichen 38) vor, die sich auch im Zentrum der Seite A befindet. Das Zeichen 12, vielleicht ein kreisrunder Schild mit sieben erhabenen Verzierungen, findet sich 15-mal auf der A-Seite, aber nur zweimal auf der B-Seite. Etliche Zeichen kommen überhaupt nur auf der A- oder der B-Seite vor.
Für ein Hyroglyphen-System sind 45 Zeichen eindeutig zu wenig, um die relevante Welt einer Kultur abzubilden (Ägypten: bis zu 7000 verschiedene Zeichen), für ein reines Buchstaben-System sind 45 Zeichen eigentlich zuviel. Das arabische Alphabet kommt mit 28 Zeichen aus, das lateinische mit 26 und das althebräische mit 22. Hinzu kommen wie im Deutschen Sonderformen (ä, ü, ö), die bestimmte Laute der gesprochenen Sprache abbilden, aber mehr als 30 Buchstaben werden selten benötigt, um mit Vokalen und Konsonanten eine Sprache abzubilden.
Beim „Diskos von Phaistos“ kommt hinzu: Wenn die A-Seite ohne Piktogramme auskommt, die auf der Rückseite vorhanden sind (und umgekehrt), kann man nicht sicher sein, dass tatsächlich der gesamte Zeichenvorrat der unbekannten Sprache auf dem Diskos abgebildet ist, möglicherweise gab es weitere, heute verlorene Zeichen.
Was man annehmen darf: Bei den 61 Zeichengruppen dürfte es sich um Worte, vielleicht auch Wortgruppen handeln, die eine gesprochene, lautliche Entsprechung gehabt haben müssen. Was immer auf dem Diskos zu lesen ist, konnte mit hoher Wahrscheinlichkeit auch gesprochen werden. Warum? Die verblüffende Antwort von Sprachwissenschaftlern und Archäologen lautet: Weil sie noch nie etwas anderes gefunden haben. Alle Schriftsysteme aller bisher bekannten Hochkulturen haben eine lautliche Entsprechung in der gesprochenen Sprache. Zumindest wurde noch nie etwas anderes ausgegraben.
Das größte Problem aber bleibt: Bis heute ist der Diskos ein Unikat. Es gibt (bislang) kein weiteres Fundstück, auf dem die Zeichen ebenfalls verwendet würden. Und 61 Wortgruppen mit zusammen 242 Zeichen sind schlicht zu wenig, um daraus eine Sprache zu konstruieren. Gleichzeitig ist es nicht sonderlich wahrscheinlich, dass der Diskos tatsächlich das einzige Artefakt war, auf dem die Zeichen verwendet wurden.
3500 Jahre vor der Erfindung des Buchdrucks, wurden die Zeichen in den Ton der Scheibe gestempelt. Es sind wahrscheinlich die ersten echten Schrift-Druckzeichen der Menschheit. Schon die bekannten Rollsiegel, die die Minoer zum „Stempeln“ verwendeten, waren nicht bloß zum einmaligen Gebrauch bestimmt. Die Annahme, dass eine Kultur einzelne Stempel von 42 Zeichen herstellt, um sie lediglich ein einziges Mal zu nutzen, ist nicht naheliegend.