Eine 3500 Jahre alte „Akte X“: Die Scheibe mit dem ungeknackten Kreta-Code

Das sagenhafte Volk der Minoer schuf vor dreieinhalb Jahrtausenden die allerersten Schriftzeichen Europas, den ersten Thron und die erste mit Wasser gespülte Toilette der Welt. Und eine beidseitig mit einer Silbenschrift bedruckte Scheibe, die sich bis heute hartnäckig allen Entschlüsselungsversuchen widersetzt.

Die A-Seite des Diskos von Phaistos, der im ArchäologischenMuseum der kretischen Hauptstadt Heraklionausgestellt ist. Bis heute scheitert die Entzifferung desTextes. Wissenschaftler glauben nun, er handele von derminoischen Schlangengöttin. Foto: tüc

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Kreta. Vielleicht ist der „Diskos von Phaistos“ bloß eine Fälschung. Das Werk eines Wichtigtuers zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als europäische Archäologen nach der Entdeckung des Palastes von Knossos darum wetteiferten, Sensationen der minoischen Bronzezeit-Kultur auf Kreta auszugraben. Das behauptet zumindest der New Yorker Kunsthändler Jerome Eisenberg — wie schon so viele andere vor ihm.

Und tatsächlich ist schon der Fund der Scheibe am Abend des 3. Juli 1908 von Merkwürdigkeiten begleitet. Zugeschrieben wird er dem italienischen Archäologen Luigi Pernier (1874—1937), der im Süden Kretas seit acht Jahren den zweitgrößten minoischen Palast der Insel ausgrub. Ab 1900 v. Chr. hatten die Minoer oberhalb der fruchtbaren Ebene von Messara bei Phaistos eine immer wieder umgebaute und immer wieder durch Erdbeben und Brände zerstörte Palastanlage errichtet, die Knossos in ihrer Bedeutung nicht nachstand. Während Evans und Knossos immer berühmter wurden, wartete die „Italienische archäologische Mission auf Kreta“ vergeblich auf den großen Fund.

Die monumentale Treppe am Aufgang zu den früheren Propyläen des Palastes von Phaistos. Foto: tüc

Als er eintrat, erregte er sogleich Verdacht: Luigi Pernier war gar nicht anwesend, als Arbeiter die Scheibe im Raum Nummer 8 des Gebäudes 101 entdeckten. Perniers Grabungsskizzen basieren auf Hörensagen. Das ist deshalb bedeutend, weil der Fundort ein rechteckiger Archiv- oder Magazin-Raum (ca. vier Quadratmeter) war, der lediglich von oben zugänglich war. Damit war fraglich, ob der Diskos bei einem Brand aus einem oberen Stockwerk des zerstörten Gebäudes in den Raum gefallen war oder sich bereits dort befand.

Die Argumente für eine Fälschung lauten seit 110 Jahren immer gleich: Der Diskos ist zu einzigartig, in jeder Hinsicht ohne Vorbild — was auf den ersten Blick zweifellos zutrifft. Es gibt keinen Fund einer vergleichbaren minoischen Töpfer-Arbeit. Der Diskos besteht aus einer, wahrscheinlich aus zwei miteinander „verbackenen“ Ton-Scheiben von zusammen 1,6 bis 2,1 Zentimeter Dicke und einem scharfkantigen, glatten Rand.

Die meisten minoischen Schriftfunde der älteren (von Evans so genannten) „Linear A“-Schrift sind in eher achtlos geformte rechteckige Täfelchen geritzt worden. Wie Kindergekrakel sieht auf dem Diskos nur die Einteilung der Felder aus, in denen die Zeichen spiralförmig von (vermutlich) außen nach innen laufen. Die einzelnen sehr exakten und naturalistischen Zeichen wurden in den Ton gestempelt. Entsprechend der 45 unterschiedlichen Zeichen mussten daher entsprechend viele einzelne Stempel entweder in hartes Material geschnitzt oder aber aus Metall gegossen werden. Entsprechende Stempel wurden nie gefunden, es gibt kein vergleichbar beschriftetes Fundstück in der gesamten Antike. Eine Zeit lang wurde vermutet, der Diskos sei vielleicht gar nicht auf Kreta hergestellt worden, sondern ein teurer Importartikel aus einer anderen Kultur. Dagegen sprechen wiederum neuere Funde, unter anderem einer rituellen Doppel-Axt, die (wenige) durchaus verwandte Schriftzeichen aufweisen. In den rund 30 wissenschaftlich ernstzunehmenden Entschlüsselungs-Versuchen (der Diskos zieht seit 110 Jahren Ufo-Gläubige und Spinner aller Art an) herrschte lange allein Uneinigkeit über die Leserichtung; die allgemeine Tendenz neigt (entsprechend der Spiralform) zur Ansicht „von rechts nach links“ (wie im Arabischen).

Seitenweise wissenschaftliche Debatten füllen allein die Diskussionen um kleine Punkte, die sich in Gruppen auf beiden Seiten der Scheibe finden, und sogenannte „Dorne“, etwas unbeholfene Kerbe-Striche am Anfang oder Ende (je nach Laufrichtung) der einzelnen Zeichen oder Silbengruppen.

Einer, der nicht nur an die Echtheit des Diskos glaubt, sondern ihn auch zum Klingen gebracht hat, ist der britisch-griechische Archäologe Gareth Alun Owens, der gemeinsam mit dem Oxforder Sprachwissenschaftler John Coleman über Jahre an dem Diskos geforscht hat.

Das etwas komplizierte Ergebnis: Owens und Coleman haben einen Zusammenhang zwischen minoischen Schriften „Linear A“ und „Linear B“ und den Zeichen auf dem Diskos hergestellt. Die vier Zeichen 2, 12, 26 und 31 (siehe Tabelle) kommen als Gruppe auf der A-Seite gleich dreimal vor. Linear A, in der die Minoer ihre Sprache aufzeichneten, ist bis heute unverständlich. Die Weiterentwicklung Linear B wurde aber benutzt, um mykenisches Griechisch statt Minoisch aufzuzeichnen — womit der Klang der einzelnen Silbenzeichen bekannt ist. Owens glaubt die Worte „Ique“ (Göttin), „Iqukurja“ (schwangere Göttin) und „Iqepaje“ (strahlende Göttin) identifiziert zu haben. Der Diskos wäre damit ein Gebet, das Hohe Lied der Schlagengöttin, die Heilige Schrift der Minoer.

Der Text des Diskos soll von der Göttin Ique handeln, die Evans in Knossos ausgrub. Foto: tüc

Was der Text bedeute und in welcher Sprache er gehalten sei — nachrangig für Owen. Es klinge vielleicht seltsam, so Owens 2014 in einem Vortrag, aber für mich habe der Text viel mit dem Song „Because The Night“ seiner Lieblings-Sängerin Patti Smith gemeinsam. Er sei zeitlos und schön.