Literarische Diplomatie in nervöser Zeit
Parallel zur Münchner Sicherheitskonferenz gibt es eine Vielzahl von Veranstaltungen. Der Filmemacher Alexander Kluge lud in diesem Jahr zu „Diplomacy & Literature“. Ein Besuch.
München. Alexander Kluge (86), Filmemacher, intellektuelle Ikone, vielleicht klügster lebender Deutscher, ist bekennender Fan der „Münchner Sicherheitskonferenz“. Seit 20 Jahren nimmt er regelmäßig teil, sie sei für ihn wie „eine Karthographie“. Während der Konferenz sitzt er in „Falk’s Bar“ im Bayerischen Hof und filmt dort Interviews in dem mit Stuck und Spiegeln überladenen Theken-Saal.
In diesem Jahr hat er sich zusätzlich zu einer Parallel-Veranstaltung im benachbarten Literaturhaus der Stadt München entschlossen, „Diplomacy & Literature“ heißt sie und soll eine Brücke schlagen zwischen der Sprache der Politik und der Literatur, eine „Bahnung“ sein. Man ahnt: Wenn Kluge eine Brücke „bahnt“, kommt höchst Interessantes dabei heraus. Nur nicht unbedingt ein begehbares Bauwerk, und falls doch, führt diese Brücke nicht zwingend zu einem Ziel.
Auf die Bühne der angekündigten Abschweifung hat Kluge sich den österreichischen Schriftsteller Robert Menasse geladen, der mit seinem Buchpreis-bekrönten Brüssel-Auschwitz-Roman „Hauptstadt“ für ein volles Haus sorgt, und den FDP-Europapolitiker Alexander Graf Lambsdorff. Nachdem Kluge kurz erklärt hat, warum Öffentlichkeit aus Geld und Kunst entsteht, schweift er kurz zu deutsch-japanischen Parallelen ab, die Samurai seien vielleicht nicht so melancholisch gewesen wie die Nibelungen.
Dazu fällt Lambsdorff ein, wo man gerade darüber spricht, dass die Japaner auch so einen uralten Premier wie Adenauer und amerikanische Hilfe hatten, nur eben in ihrer Nachbarschaft keine EU; alles hoch nervös da. Dazu fällt Kluge wie vom Blitz getroffen plötzlich ein, das es genau darum geht: „Wenn Wolfgang Ischinger als Vorsitzender der Sicherheitskonferenz warnt, dass ein großer Krieg nicht auszuschließen ist, sollte uns das nervös machen!“ Überhaupt sei die Konferenz in diesem Jahr nervös wie nie.
Zurück zur Abschweifung: Robert Menasse merkt an, dass Japan über Jahrhunderte nur eine einzige Stadt hatte, in der westliches Leben erlaubt war, und die den Amerikanern nach dem Krieg als Vorbild für den Wiederaufbau diente, nachdem sie ausgerechnet dort die zweite Atombombe abgeworfen hatten: Nagasaki. Dann liest Menasse eine Anekdote über Unternehmensberater in einem Theater-Café in Wien vor. Sie bestätigen sich gegenseitig, dass der Koch hier ganz weit vorne ist und sich richtig was traut. Auf der Karte entdecken sie „Lammrücken in Tiramisu“.
Während der eine darauf beharrt, das müsse man unbedingt probieren, weil der Koch so weit vorn sei, hat der andere Zweifel. Es setzt sich der Entschlossene durch und bestellt. Der Kellner lacht, da habe der Küchenjunge etwas falsch abgeschrieben, richtig heiße es nicht Tiramisu, sondern Thymian-Sud. „Ich habe das nicht erfunden“, sagt Menasse in das Lachen des Publikums hinein, „deshalb ist es auch nicht lustig.“
Kluge ist begeistert. Denn was ist Beratung anderes als Unsicherheit? Und damit das gleiche wie der Wunsch nach mehr Polizei? Und was bedeutet das, wenn sich immer der überzeugte Idiot gegen den Zweifler durchsetzt?
Zur Erholung schnell ein Film, in dem Kluge Menasse über das Schreiben seines Haupstadt-Buchs interviewt. „Ich wollte das Summen des Maschinenraums von innen hören“, sagt Menasse. Dann geht es um Habermas, eine Skizze für den Nachruf auf den Nationalstaat, die Abwesenheit von Legitimation, und dass Körperteile eine eigene Klugheit haben, weshalb was bleibe, der Phantomschmerz sei.
Kluge erzählt von einer legendären Oper, in der Stummheit dadurch ausgedrückt werde, dass der Sopran nicht singe, worauf eine Revolution ausbricht. Lambsdorff ist dafür, die Faszination Europas gegen die Re-Nationalisierung ins Feld zu führen. Dann muss er aber auch leider los, zum nächsten Termin der Sicherheitskonferenz. Menasse ruft ihm nach, jeder außer am rechten Rand der AfD sei heilbar. Und damit zurück nach Brüssel, wo es neben der EU das zweite Reich der Nato gibt, hinter den Kulissen wieder nur Kulissen, und wo an der Kantinenwand stehe, dass Dienstgespräche hier verboten seien. Und wenn man frage, warum das da stehen müsse, wo es doch eh jeder wisse, laute die Antwort: „Sicher ist sicher.“
Kluge erzählt vom Sommer 1983, als er ein Kind gehabt (er sagt konsequent Kind; kein Name, kein Geschlecht) und gerade einen Film gemacht habe mit Volker Schlöndorff und Stefan Aust, und wie er dann in Venedig gewesen sei, wie herrlich es war, wie sicher er, und wie er später erfahren habe, dass damals die Welt am Rand des Atomkriegs stand. Und jetzt sage der Ischinger das mit dem nicht auszuschließenden Krieg. Er habe den Eindruck, es gehe zurück zu den unordentlichen Kriegen in der Zeit vor dem 30-jährigen Krieg. So ähnlich wie in Syrien, es lässt sich nicht beenden.
Das eigentlich Anstrengende daran, Kluge auf seinem Parforce-Ritten durch das Wissen der Menschheit zu folgen, ist seine Sprache. Dort, wo sie ein Komma vorsieht, fügt Alexander Kluge ein „ja“ mit einem gesprochenen Fragezeichen ein, das aber semantisch ein Zustimmung verlangendes Ausrufezeichen ist. Wo am Ende eines Satzes ein Punkt reichen würde, fügt Kluge dem obligatorischen „Ja?“ ein „Nicht?“ hinzu. Das Ergebnis lautet dann zum Beispiel: „Im Baskischen, ja?, Wilhelm von Humboldt hat das erforscht, ja?, passt nicht einmal die Grammatik zu Madrid, ja? nicht?“
Menasse plädiert jetzt mal für 400 Regionen statt 27 Staaten, weil Regionen weniger aggressiv seien. Es habe schließlich der Baske kein Interesse an Regionen, in denen keine anderen Basken lebten. So etwas wie Vereinigte Staaten von Europa, so Menasse, „sind ein Produkt von hauptberuflicher Fantasielosigkeit.“
Kluge hat noch einen Film. Es geht um Rem Kohlhaas und einen Seiltänzer. „Die Sprachverwirrung“, sagt Kluge, „kommt von der Einheitssprache, ja?, umso mehr Babylon, ja?, umso besser, ja? nicht?“
Nach anderthalb Stunden ist die Luft im Saal aufgebraucht, die ersten gehen erschöpft, aber Kluge ist noch nicht fertig. Im nächsten Text geht es um Kluges Vater auf der Sicherheitskonferenz; er war 1892 geboren, längst tot — und deshalb konnte ihn die Security nicht aufhalten, hihi. Wer braucht da Atemluft?
Es gibt noch einen kurzen Film über die Macht der Vernunft. Danach überlegen Kluge und Menasse ohne Manuskript, welche zehn Verfassungsartikel auf der Rückseite der Flugblätter stehen sollten, die bei der Ausrufung der europäischen Republik vom Balkon geworfen werden könnten. Für das Publikum geht es in die Nacht, Menasse geht erst mal eine rauchen.
Auf den Handy-Bildschirmen der Konferenz-Teilnehmer ploppt eine Botschaft auf: Die Konferenz lädt mit Partnern zu „Diplomacy and Drinks“ in die „Rooftop Bar“ eines Pop-up-Hotels über dem Pressezentrum. Alexander Kluge sitzt am nächsten Tag wieder in „Falk’s Bar“ im Bayerischen Hof und filmt. Er ist ein Fan dieser Konferenz. Nächstes Jahr wieder.