„Babylon“-Uraufführung stürmisch gefeiert

München (dpa) - Als hätte eine höhere Macht Regie geführt: Als die Bayerische Staatsoper am Samstag ihr Auftrags-Opus „Babylon“ von Jörg Widmann uraufführen lässt, stirbt überraschend der große Komponist Hans Werner Henze.

München verdankt ihm die Biennale für Neues Musiktheater, im Nationaltheater wurde sein Werk „Venus und Adonis“ 1997 uraufgeführt. Und so war es nur konsequent, dass der Henze-Schüler Widmann und Librettist Peter Sloterdijk diesen Abend dem wohl wichtigsten deutschen Komponisten der Gegenwart widmeten.

Philosoph Sloterdijk setzt sich in seinem ersten Textbuch für eine Oper mit dem Aufeinanderprallen zweier Kulturen im monumentalen Babylon und mit einer großen Liebe auseinander, die sogar den Tod überwindet. Er entwirft in sieben Bildern seine ganz eigene Sicht auf die vorantike Stadt als multikulturelle Metropole. Überhaupt die heilige Zahl sieben: Sieben Planeten im Harlekin-Kostüm erzählen die babylonische Sintflut, sieben große Plastik-Phalli und sieben ebensolche Vulven verkörpern orgiastisches Treiben zum Neujahrsfest.

Tammu, der Vertraute des Priesterkönigs, erliegt der sexuellen Macht der babylonischen Priesterin Inanna. Da erhebt sich der Euphrat und beklagt, warum gerade er als Fluss die alles vernichtende Flut verantworten müsse. Der Priesterkönig ruft eine neue auf Opfern beruhende Weltordnung aus. Tammu selbst wird den Göttern zum Neujahrsfest geopfert. Doch Inanna erträgt den Verlust ihres Geliebten nicht und erwirkt beim Tod die Wiedererweckung Tammus. Im Raumschiff fliegen beide empor, das neue Babylon ist geschaffen.

Carlus Padrissa samt seiner katalanischen Theatergruppe La Fura dels Baus - er inszenierte im Nationaltheater bereits Puccinis „Turandot“ - türmen auf der Bühne einen ganzen Abend lang Buchstaben aufeinander. Mal treten die Handelnden in antiken Kostümen auf, mal im Baströckchen. Der Chor trägt wallende Buchstabenkleider, die den Euphrat förmlich auf die Bühne fließen lassen. Am Anfang und am Ende steigt ein Skorpionmensch auf den Ruinen der orientalischen Stadt herum - das einzige überlebende Wesen.

Dass diese Oper den Rahmen auch musikalisch sprengen würde, sahen die Premierenbesucher schon beim Betreten des Zuschauerraumes. In den Proszeniumslogen saß kein Publikum, sondern stand allerlei Schlagwerk, das von Musikern des Staatsorchesters genial bedient wurde. Widmann setzt das babylonische Sprachgewirr in vielfältigste Klänge um. Er baut Cluster auf, beinahe wie die aus vielen Buchstaben bestehenden Türme auf der Bühne.

Blasinstrumente und Schlagwerk führen, die Streicher sekundieren die Klangteppiche mehr als dass sie sie dominieren. Urkomisch, wie Widmann beim Neujahrsfest den Bayerischen Defiliermarsch verfremdet oder gar die weiß-blaue Bierseligkeit mit dem Gassenhauer „In München steht ein Hofbräuhaus - oans, zwoa, gsuffa“ ins Nationaltheater holt.

Höchste Höhen verlangt der Komponist den beiden weiblichen Hauptrollen, der Seele und der babylonischen Priesterin Inanna, ab. Claron McFadden und Anna Prohaska bewältigen die gesangstechnisch schwierigsten Partien bravourös. Jussi Myllys als beider Geliebter Tammu hat Widmann hingegen eine viel einfachere Stimme geschrieben. Hervorragend im Solistenensemble noch: Willard White als Priesterkönig und Tod sowie Gabriele Schnaut als Euphrat. Ein Garant des Premieren-Erfolges war einmal mehr der glänzend disponierte Opernchor (Einstudierung: Sören Eckhoff).

Musikalisch ist der Glanz des Abends aber vor allem Kent Nagano zu verdanken. Mit welcher Konzentration, klarer Zeichengebung und sicherer Führung der Solisten auf der Bühne er die DIN-A2-Partitur umsetzt, ist eine kapellmeisterliche Höchstleistung. Entsprechend heimst er am Schluss neben der überragenden Anna Prohaska und dem Regieteam den meisten Applaus ein. Das verwöhnte Münchner Publikum feiert die Uraufführung stürmisch. Peter Sloterdijk, der die Vorhänge herrlich unbeholfen hinter sich bringt, wird die wenigen Buhrufe verkraften. Über allem schwebt an diesem Abend unsichtbar ohnedies der Geist des großen Hans Werner Henze.