Cameron Carpenter: „Sinnlich und fast gewalttätig“

Cameron Carpenter spielt klassische Klavierstücke von Mahler und Co. auf der Orgel. Im November kommt er nach Wuppertal.

Düsseldorf. Herr Carpenter, Sie legen sich bei Ihrer Tournee nicht auf ein Programm fest, sondern sagen, Sie müssten die Orgel am jeweiligen Auftrittsort erst einmal sehen, bevor Sie sich für das Programm des Abends entscheiden. Was passiert denn, wenn Sie vor einer unbekannten Orgel stehen?

Cameron Carpenter: Da passiert unglaublich viel in mir. Manchmal werde ich aufgeregt, manchmal möchte ich heulen und wegrennen, etwa weil eine Orgel lange vernachlässigt wurde — schließlich möchte ich mit einer Orgel Dinge tun, die aus dem Rahmen fallen. Es gibt auch zwei oder drei Instrumente weltweit, die mich glücklich machen. Ein Organist ist in einer ganz anderen Situation als ein Geiger, der mit seinem Instrument seit Jahren vertraut ist. Ich habe mit einer Orgel nur die sechs oder acht Stunden vor einem Konzert — das ist beängstigend, obwohl ich keine Bühnenangst habe. Wegen dieser Konstellation lehne ich es ab, Jahre im Voraus ein Programm festzulegen.

Sie zeigen eine ausgeprägte Beinarbeit. Spielen Sie auf den Pedalen auch Akkorde?

Carpenter: Ja, das mache ich oft. Ich spiele damit so schnell und komplex wie mit den Händen. Bei Chopins Revolutions-Etüde zum Beispiel übernehmen die Füße den Part der linken Hand, bei anderen Stücken spielen sie die Bass- oder Tenorstimme.

Ihre Schuhe sehen ungewöhnlich aus. Sind das normale Orgelschuhe?

Carpenter: Nein, ich trage Schuhe für lateinamerikanischen Tanz. Deren Absätze lasse ich höher machen und beklebe sie selbst mit vielen Swarowski-Steinen.

Welche Musik hören Sie in Ihrer Freizeit?

Carpenter: Wenn ich frei habe, höre ich sehr wenig klassische Musik — denn das ist meine Arbeit. Lieber höre ich zum Beispiel Kate Bush, Leonard Cohen, Björk und Annie Lennox.

Gibt es Musik, die sich nicht für Orgel eignet?

Carpenter: Hip-Hopp geht gar nicht. Manchmal denke ich auch, dass sich das normale Orgelrepertoire nicht richtig gut eignet. Ich kenne es, aber ich spiele es nicht oft. Meine Orgelmusik soll sinnlich, verführerisch und fast gewalttätig sein. Also adaptiere ich auch andere klassische Stücke für die Orgel, etwa von Mahler oder Schostakowitsch.

Was Sie an der Orgel machen, sieht körperlich ziemlich anstrengend aus. Trainieren Sie regelmäßig?

Carpenter: Im Moment bin ich in richtig guter Form. Ich achte sehr auf mein Muskel- und Ausdauertraining, mache Pilates, Yoga und Gewichtheben. Zum Glück habe ich mit dem Essen kein Problem. Ich bin anspruchslos und esse meist dasselbe — viel Fleisch, ein paar Nudeln, fettarme Milch, aber keinen Nachtisch, keinen Zucker und sehr wenig Alkohol.

Und vor dem Konzert machen Sie Liegestütze?

Carpenter: Ja, damit der Oberkörper gut durchblutet ist.

Sie arbeiten seit Jahren an der Entwicklung einer digitalen Orgel mit. Was unterscheidet sie von dem traditionellen Instrument mit seinen Orgelpfeifen?

Carpenter: Sie bietet nur Vorteile: Endlich kann ich — und jeder andere Orgelspieler — eine dauerhafte Beziehung zu meinem Instrument aufbauen. Sie ist transportabel, das heißt, jeder kann in den Genuss eines Orgelkonzerts kommen — sie ist in jeder Halle, in Krankenhäusern und Gefängnissen einsetzbar und Open Air natürlich auch. Und drittens ist es die perfekte Orgel. Es gibt keine beweglichen Teile mehr, die den Klang beeinträchtigen können. Ich weiß, dass die Orgel-Anhänger extrem konservativ sind, aber dieses Instrument wird kommen. Das ist jetzt keine Werbung: Ich bin daran nur ideell, nicht finanziell beteiligt.

Aber eine digitale Orgel wird sich immer gleich perfekt anhören, während traditionelle Orgeln unterschiedlich klingen. Ist dieser Klang nicht viel lebendiger?

Carpenter: Keine der beiden lebt. Die Instrumente sind tot, und sie sollen es auch sein. Das mystische Gerede vom lebendigen Klang halte ich für eine Ausrede, wenn jemand schlecht spielt. Gauben Sie, ein Formel-1-Fahrer oder ein Feuerwehrmann will, dass sein Arbeitsgerät „lebt“ und eigenmächtig handelt? Eben, und ich will das auch nicht.