Erschreckend aktuell: Christian Bergs Musical „Oliver Twist“
Hamburg (dpa) - Am Ende gibt es ein klares politisches Statement: „Jeder hat ein Recht auf Heimat“ oder „Heimat ist dort, wo dein Herz ist“ steht auf den Schildern, die die Figuren von Christian Bergs neuem Familienmusical „Oliver Twist - Tu doch, was dein Herz dir sagt“ hochhalten.
Mit höchst aktuellem Bezug inszeniert der Regisseur und Schauspieler Berg den Klassiker von Charles Dickens. Am Samstagabend feierte das Stück mit Musik von Liedermacher Konstantin Wecker am Harburger Theater in Hamburg seine Uraufführung.
„Aber irgendwie ist Oliver Twist doch auch ein Flüchtling“, sagt Berg zu Beginn, als er als Theaterdirektor Mr. Pubbeby mit einer Kasperlepuppe am Rande der Bühne ein Zwiegespräch führt. Die Puppe versucht den Theatermann zu beruhigen, das Stück sei schließlich mehr als 170 Jahre alt, in Zukunft werde es besser sein, wiederholt sie immer wieder. Sie verstummt erst, als Mr. Puddeby eben jenen Satz sagt. Kinder sind auch heute noch Flüchtlinge, alleine, verloren und vergessen, lautet die Botschaft von Berg.
Berg hat schon zahlreiche Kindermusicals wie „Jim Knopf“, „Peter Pan“ und „Pettersson und Findus“ mit Konstantin Wecker auf die Bühne gebracht. Es ist kein leichter Stoff, den er sich diesmal ausgesucht hat. Düster ist das Bühnenbild, dem London Anfang des 19. Jahrhunderts nachempfunden. Da gibt es skrupellose Gauner, Dirnen mit gutem Herz, brutale Alkoholiker und viele einsame Waisenkinder - wie Oliver Twist. „Ich weiß nicht, wie es ist ein Kind zu sein“, singt der Junge einmal - und es will einem das Herz zerreißen.
Doch Christian Berg wäre nicht Christian Berg, wenn er nicht auch fröhliche Töne anstimmen würde. Denn sobald es in dem gut zweistündigen Stück für Kinder ab acht Jahren allzu düster und traurig wird, lässt er einen lustigen, ermunternden Song anstimmen, etwa „Mach dir die Stadt zu deinem Königreich“ - wenn auch als Taschendieb - oder den Titelsong „Tu doch, was dein Herz dir sagt“. Da fordern die Sänger, die allesamt gleich mehrere Rollen spielen, auch mal das „Fach Vernunft“ zu schwänzen. Ein anderes Mal beginnt Oliver eine Rauferei mit einem anderen Jungen, die die wenigen Kinder im Premierenpublikum zum Lachen bringt.
Berg gelingt es meist, seine Botschaft wohldosiert und mit nicht allzu viel Bedeutungsschwere zu vermitteln. Kein Mensch, nicht einmal der Gauner Fagin, den er selber mimt, ist von Geburt an schlecht, die Gesellschaft, die anderen Menschen machen ihn dazu, lässt er den edlen Mr. Brownlow (Steve Alex) am Ende sagen. Und wie immer macht sich Berg zu einem Fürsprecher der Kinder, die ihrem Herzen folgen und die Erwachsene auf die Missstände hinweisen sollen.
In einem Interview hatte Berg vor einigen Tagen gesagt: „Vorurteile abzubauen ist die Lebensaufgabe als Künstler. Wenn von 500 Leuten im Theater sechs Kinder nach Hause gehen und das Elend der Flüchtlinge mit ihren Eltern ansprechen, hat sich unsere Arbeit gelohnt.“ Das dürfte ihm mit seiner nachdenklichen und dennoch unterhaltsamen Inszenierung gelungen sein.