Große Scham, schwere Schuld: „Solaris“ in Bregenz
Bregenz (dpa) - Was macht uns zu dem, was wir sind? Ist es unsere Vergangenheit, die Summe der Ereignisse und unseres Handelns? Oder sind es die Erinnerungen - das Bild, das wir selbst und andere von uns haben?
Bei den Bregenzer Festspiele stellte Detlev Glanert am Mittwochabend mit der Uraufführung seiner Science-Fiction-Oper „Solaris“ genau diese Frage: Was bloß ist der Mensch? Hoffnungsvolle Antworten sucht man dabei vergebens.
Im Kontrast zum Handlungsort Weltall - im Festspielhaus Bregenz wunderbar umgesetzt von Christian Fenouillat - kommt die Oper fast schon traditionell daher. Glanerts Musik überrascht durch ihre Gefälligkeit mit jazzigen Elementen - man hätte bei dem Thema fast mehr Atonalität erwartet. Dem Prager Philharmonischen Chor und den Wiener Symphonikern unter der musikalischen Leitung von Markus Stenz gelingt es, eine mitunter beschwörende Atmosphäre zu kreieren.
„Solaris“ bildete den Auftakt der Bregenzer Festspiele - am Donnerstagabend sollte es dann auf der Seebühne, wie im vergangenen Jahr, mit der Oper „André Chénier“ des italienischen Komponisten Umberto Giordano weitergehen (bis 18. August).
Die Handlung von „Solaris“ kennen viele wohl weniger aus dem 1961 erschienenen Roman des polnischen Autors Stanislaw Lem (1921-2006) als aus der Verfilmung von Steven Soderbergh im Jahr 2002: Der Psychologe Kris Kelvin - in der Oper gespielt von Dietrich Henschel - wird auf eine Raumstation geschickt, die um den Planeten Solaris kreist. Doch die Forscher dort warnen ihn vor Erscheinungen, die sie heimsuchen und die man nicht mehr loswird.
Auch Kelvin bekommt schnell Besuch: Seine Frau Harey (Marie Arnet), die Jahre zuvor Selbstmord beging, sitzt auf einmal wieder an seinem Bett. Es dauert eine Weile, bis klar wird, woher die „Gäste“ kommen. Ein gigantischer Ozean auf dem Planeten erschafft sie, indem er die Gehirne der Forscher abtastet. Nicht die schönen Erinnerungen sucht er sich heraus, sondern sadistisch die Momente der größten Scham, der schwersten Schuld.
Diese Thematik steht im Mittelpunkt des Romans von Lem - während sich Soderbergh bei seiner Verfilmung eher auf die Liebesgeschichte zwischen Kelvin und Harey konzentriert. „Absoluter Blödsinn“, sagte Lem einmal in einem Interview dazu. „Alles Interessante an meinem Roman bezog sich auf das Verhältnis der Menschen zu diesem Ozean als einer nicht-humanoiden Intelligenz - nicht auf irgendwelche zwischenmenschlichen Liebesgeschichten.“ Komponist Detlev Glanert gelingt es, eine gute Mischung aus Beidem zu schaffen.
„Es kann doch sein, dass er uns wohl will“, sagt Kelvins Kollege Snaut (Martin Koch) zu ihm. „Er liest uns Wünsche aus dem Hirn ab.“ Doch diese entpuppen sich schnell als schlimmster Alptraum. Es sind die peinlichsten Fantasien, die verborgensten Sehnsüchte, die nun offen und für alle sichtbar zu Tage treten: Snaut bekommt Besuch von seiner Mutter, von der er sich permanent erniedrigen lässt und die er gleichzeitig heftig begehrt.
Der Science-Fiction-Hintergrund wird in der Inszenierung von Moshe Leiser und Patrice Caurier mit dem Libretto von Reinhard Palm zu einem Rahmen, der die Handlung nachvollziehbarer erscheinen lässt. „Solaris ist im Grunde eine Versuchsanordnung“, sagt Detlev Glanert in einem Interview in Bregenz. „Lem hat die Handlung in die Zukunft verlegt, um ein psychologisch sehr interessantes Arrangement zu konstruieren: Die Einflüsse des Planeten Solaris dienen ihm als Mittel, um die Erinnerungen und die Schuldgefühle der Menschen zu verfleischlichen.“
Den Forschern gelingt es schließlich, die „Abbilder“ zu zerstören, doch der Weg zurück zur Erde ist für sie längst keine Alternative mehr. Zu sehr sind sie bereits gefangen in der Welt von Solaris, zu tief haben sie in die eigenen Abgründe geschaut. Am Ende steht nicht einmal mehr die Hoffnung. Der ewige Glaube der Verliebten und der Dichter an die Macht der Liebe - das sei eine Lüge, sagt er, als ihn das Plasma des Planeten langsam umfließt und zu verschlingen droht. „Vergeblich. Aber nicht lächerlich.“