Jamie Lidell: Mit dem Kompass auf Selbstsuche
Der Umzug nach New York hat dem verschrobenen Sound-Tüftler Jamie Lidell gut getan. Sein neues Album „Compass“ strotzt nur so vor kraftvollen Songs und grandiosen Ideen.
Düsseldorf. Irgendwann hatte Jamie Lidell genug davon, sich in seiner neuen Wahlheimat New York nur wie ein Tourist zu fühlen. Bereits seit einigen Monaten hatte er seinen Lebensmittelpunkt in den Big Apple verlegt, einen produktiven Schub jedoch brachte der Umzug zu seiner neuen Lebensgefährtin nicht. Im Gegenteil. In den ersten Monaten führte Lidell ein urbanes Nomadendasein zwischen Diner, Pizzeria und Museums-Café. Sich die Stadt Straßenzug um Straßenzug zu erschließen, genoss er. Es kam seinem, wie er es selbst ausdrückt, "zur Faulheit neigenden Naturell" entgegen.
Doch irgendwann wird der schönste Müßiggang langweilig. Die Monate der Veränderung hatten in Lidell unzählige Ideen keimen und sich aufstauen lassen, die nun in neue Songs gegossen werden wollten. Und das ist für gewöhnlich der Punkt, an dem der 36-Jährige zum Telefon greift, um seine Mitstreiter zusammenzutrommeln. Wie immer ist es ein illustres Grüppchen experimentell bewanderter Vollblutmusiker geworden.
Da sind zunächst die üblichen Verdächtigen, Leslie Feist, Chilly Gonzales und Mocky, mit denen Lidell bereits so etwas wie ein stetes Künstlerkollektiv bildet. Dazu gesellte sich diesmal mit Grizzly Bear eine Independent-Band, die mit ihrer Vorliebe für sanft verschrobene Elektronik-Spielereien auf Lidells Anfänge in den 1990ern als Techno-DJ und Avantgarde-Musiker verweist. Den wichtigsten Beitrag allerdings lieferte diesmal Songschreiber-Ikone Beck. Mit ihm ging Lidell die ersten Entwürfe durch und platzte schier vor Neid, dass dem Kalifornier alles, was er musikalisch anpackt, scheinbar mühelos aus dem Ärmel herausfällt.
Lidell selbst ist eher der Tüftler, der sich tage-, manchmal sogar wochenlang mit kleinen Details aufhalten kann, bevor er mit dem Ergebnis zufrieden ist. Allzu viel Zeit für erschöpfenden Perfektionismus konnte er sich diesmal allerdings nicht lassen: Seine Weggefährten Gonzales und Feist sind mittlerweile Hallen füllende Plattenstars, Grizzly Bear seit Mitte vergangenen Jahres auf ausverkaufter Tour, und Beck hat sowieso ständig irgendwo seine Finger am Regler. Die Zeitfenster, die Lidell von seinen Kollaborateuren zugestanden wurden, waren entsprechend eng. Doch gerade dieser Druck soll Wunder bewirkt haben. Zu wissen, dass Beck nur zehn Tage erübrigen kann und eine Woche später bereits die eigentliche Aufnahme-Session auf der Ranch von Leslie Feist folgen würde, war für einen trägen Zeitgenossen wie Jamie Lidell genau das Richtige.
Diese straffe und konzentrierte Organisation hört man "Compass", seinem vierten Album, auch an. Jeder Song ist eine kunstvoll choreographierte Kopfgeburt. Damit hat Lidell den entspannten Retro-Soul seiner letzten beiden Alben zwar nicht völlig aufgegeben, aber doch deutlich reduziert. An Energie strotzenden Motown-Sound im Sinne der Jackson 5 erinnert nur noch das leichtfüßig groovende "Enough’s Enough". Ansonsten verschmelzen Funk, Blues, Gospel und wuchtiger Elektro-Hip-Hop zu einem magischen Ganzen, wie es sonst nur Marvin Gaye oder Prince zustande gebracht hätten.
Es verdichtet sich hier aber nicht nur das bisherige musikalische Schaffen Lidells zu einem reifen Gesamtkunstwerk. Auch seine persönlichen Erfahrungen der vergangenen zehn Jahre, das existenzielle Künstlerdasein in unaufgeräumten Berliner Ein-Zimmer-Wohnungen und später der Versuch, in Paris Savoir Vivre und Laissez Faire einzuatmen, finden Eingang: "Compass" ist dafür der passende Titel.
Die 14 Songs sind eine Sinnsuche, mal wolkenverhangen melancholisch wie im schwerfällig schlurfenden "Big Drift", dann wieder unverschämt cool wie in "Your Sweet Boom". Ihre komplexe Anziehungskraft entfalten die Titel sofort, um sich in sie zu verlieben, bedarf es allerdings schon einiger bewusster Hördurchgänge. Alles andere würde der grandiosen Arbeit Lidells aber auch nicht gerecht.