„Jesus, etc“ am Altar: Tweedy live in Berlin

Berlin (dpa) - Es gibt einen Wilco-Song mit dem rätselhaften Titel „Jesus, etc“. Jeff Tweedy, seit 20 Jahren Frontmann der US-Band, sang diese wunderbar brüchige Ballade in Berlin passenderweise vor einem Altar - einer der Höhepunkte eines denkwürdigen Kirchen-Auftritts.

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Der 47-Jährige war diesmal nicht wie schon so oft mit Wilco in die ganz auf Mauerfall-Feiern eingestellte deutsche Hauptstadt gekommen - sondern mit seinem Zweitprojekt Tweedy, das er zusammen mit dem Schlagzeug spielenden Sohn Spencer (18) betreibt. Das im Herbst erschienene Album „Sukierae“ zählt zweifellos zu den Highlights dieses Folkrock- und Singer/Songwriter-Jahrgangs. Es fasziniert vor allem nach mehrfachem Hören mit facettenreichen, sensiblen Songs, die häufig durchaus an bewährte Wilco-Qualität heranreichen.

Beim ersten Tweedy-Deutschlandkonzert in der neugotischen Apostel-Paulus-Kirche nahmen die 20 Songs dieser Debütplatte breiten Raum ein. Vater und Sohn Tweedy fühlten sich bereits sichtlich wohl mit dem neuen Material - Jeff als charismatischer Sänger und Gitarrist, Spencer als talentierter Drummer, der Erstaunliches aus seinem Mini-Schlagzeug herausholte. Komplettiert wurde die insgesamt fünfköpfige Tweedy-Band durch Bass, Keyboards und die markante E-Gitarre des Studiocracks Jim Elkington.

Gut eine Stunde spielten sich die Tweedys und ihre Mitstreiter durch filigrane Folkballaden wie „Where My Love“ (geprägt durch die Krebserkrankung von Jeff Tweedys Ehefrau), sonnige Pop-Tracks („Summer Noon“), Virtuosenstücke („Diamond Light“) oder auch herbe Rocker („Please Don't Let Me Be So Understood“). Wer danach noch nicht beeindruckt in seiner Kirchenbank saß, tat es spätestens beim anschließenden Soloprogramm: Nur zur Gitarre sang Jeff Tweedy seine Wilco-Lieder in tief berührenden Akustikversionen - es war die vielleicht schönste Konzert-Stunde des Jahres in Berlin.

Selten hat man den (nicht ganz zu Unrecht) als launisch und mürrisch verschrien Sänger so gelöst erlebt wie in diesen aufs Wesentliche reduzierten Songs - und man verstand, warum Tweedy inzwischen neben Neil Young, Bob Dylan oder Bruce Springsteen zu den Folkrock-Säulenheiligen gezählt wird.

Kein Wispern, kein Räuspern war zu hören, als der Mann aus Chicago in der voll besetzten Kirche seine zarten Lieder gelegentlich auch mal im Falsett vortrug oder pfiff. Die Spannung löste sich erst wieder, als die Band zurückkehrte und mit „California Stars“ eine grandiose 140-Minuten-Show beendete.

Weitere Konzerte: 8.11. Weissenhäuser Strand bei Lübeck (Rolling Stone Weekender); 13.11. Köln