Keith Jarrett: Fortissimo zum 70. Geburtstag
New York (dpa) - Ein Pianovirtuose, der das Publikum mit Bach und Bartók ebenso begeistert wie mit seinen Jazzimprovisationen, wird 70. Und überraschenderweise scheut Keith Jarrett das Rampenlicht nicht.
Dem deutschen Musikkritiker Wolfgang Sandner etwa stand er für eine Biografie zur Verfügung: „Keith Jarrett“ erschien vor wenigen Wochen. Der italienische Fotograf Roberto Masotti stellt die Jazzlegende in einem neuen Band mit Aufnahmen von 1969 bis 2011 vor. Und das französische „Jazz Magazine“ widmet ihm die Mai-Ausgabe.
Unmittelbar vor Jarretts Geburtstag an diesem Freitag (8. Mai) gibt ECM zwei neue CDs heraus, „Creation“ mit Jazzimprovisationen und das klassische Album „Samuel Barber/Béla Bartók“. Fünf Alben aus den Jahren 1967 bis 1976 kommen als Box-Set „Original Album Series“ auf den Markt. Der Sender SWR2 feiert das „faszinierende Œuvre“ von Jarrett am späten Samstag (9. Mai) in einem vierstündigen Programm.
Wo sich der berühmte Amerikaner nun an seinem Ehrentag aufhält, war zunächst nicht zu erfahren. Bekannt ist nur, dass er bald in Neapel (18. Mai) und in Luzern (22. Mai) als Solist spielt. Konzerte mit seinem Trio sind derzeit nicht geplant.
Wenn Jarrett in die Tasten greift, wird er zum Magier. Sein legendäres „The Köln Concert“ (1975) ist mit über 3,5 Millionen verkauften Kopien das erfolgreichste Soloalbum der Jazz-Geschichte. „Nur wenige vermögen den Flügel so „singen“ zu lassen wie Keith Jarrett“, heißt es beim SWR2. Er verflechte Elemente aus Klassik, Jazz, Weltmusik, Gospel, Free und Rock zu neuen differenzierten Formen.
„Wofür ich bezahlt werde, ist in die Tiefe zu gehen“, sagte er der „New York Times“ einmal, „wie im Tauchanzug mit Maske, tief und immer tiefer“. Ein gutes Publikum - wie vor 35 Jahren in Köln - lasse sich von ihm mitziehen, „wird Teil meiner Musik“. Unruhe unter seinen Zuhörern, ein Husten, Handy oder Blitzlicht aber bringen ihn aus der Fassung. Dann rastet er auch mal aus, droht, das Konzert abzubrechen, flucht und maßregelt.
Stimmt aber die „emotionale Farbe“ in einer Konzerthalle, „ist das Publikum bereit, mir zu folgen, ganz gleich, durch welchen Prozess ich gehe“, kennen seine Kreativität und Fantasie keine Grenzen. Dann improvisiert er vom ersten Anschlag bis zum Applaus, manchmal ohne ein einziges Mal kurz auszusetzen. Da sich Jarrett in seinen Improvisationen nie wiederholt, ist jedes Konzert ein neues Werk.
Der schmächtige Amerikaner mit dem Bürstenschnitt war noch nicht drei, als er Unterricht am Klavier bekam. Mit sieben gab er sein erstes Konzert, mit zwölf ging er auf Tourneen und 17-jährig füllte er ein Abendprogramm ausschließlich mit eigenen Kompositionen.
Hinter ihm liegt eine Auszeit von mehreren Jahren. Jarrett war in den 90er Jahren ausgebrannt, litt unter chronischer Erschöpfung. Er konnte nicht mehr spielen. Als die Kraft langsam zurückkehrte, musste er seine Virtuosität neu erlernen. „Alles war anders. Ich habe Musik und ihre Bedeutung anders empfunden“, sagte Jarrett dem öffentlichen US-Sender NPR 2000 in einem Interview. Das werde sich auch nicht mehr ändern. „Ich glaube, dass wir durch Umstände (wie eine schwere Erkrankung) etwas entdecken, das wir als viel beschäftigte Künstler sonst nicht so sehen können.“
Zwischen seinen Konzerten legt Jarrett jetzt Pausen ein, um sich zu Hause auf seiner Farm in der 2000-Seelen-Gemeinde Oxford in New Jersey wieder zu erholen. Sie liegt zwei Fahrstunden von Manhattan und der geliebten Carnegie Hall entfernt. Ganz in der Nähe dieses Ortes war Jarrett einst aufgewachsen, der älteste von fünf Söhnen einer streng religiösen Familie.
Seine Herkunft habe anfangs oft Fragen aufgeworfen, bekannte der weiße Jazzmusiker in dem NPR-Interview. Wie konnte er zum Meister dieser ursprünglich afroamerikanischen Musik werden? Unter anderen habe ihn der Saxophonist Ornette Coleman gefragt: „Du bist kein Schwarzer? Du musst einfach schwarz sein.“ Jarretts Antwort? „Ich arbeite daran.“