Neues Album von Arcade Fire: Identitätssuche im Niemandsland
Independent: Zurück in die Vorstadt! Auf „The Suburbs“ machen Arcade Fire das, was sie am besten können: nach dem Einfluss von Jugend und Pubertät auf unseren Werdegang fragen.
Die Vorstadt, der architektonische Gleichklang zwischen Grünnarben und Kieswegen, lässt Win Butler offensichtlich nicht los. Bereits auf dem Debüt von Arcade Fire, "Funeral" von 2004, sinnierte der Frontmann der kanadischen Band über die Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens, die unsichtbaren Wunden, die die Kindheit hinterlässt und das Scheitern, das sie mitunter verursachen. Wehmütig und harmonietrunken waren die mal schwelgerischen, dann wieder verstörenden Songs, die mittlerweile für eine ganze Generation als Soundtrack herhalten.
Arcade Fire sind schon längst nicht mehr die verschrobene, leicht entrückte Combo, zu deren Musik ein paar verschüchterte Pullunderträger mit den Füßen wippen. Arcade Fire sind in ihrem achten Jahr eine Band, die große Stadien füllt, deren Namen auch musikalische Laien kennen und auf deren neues Album so stark hingefiebert wurde, dass schon allein die Vorbestellungsrate in Edelmetallnähe rückte.
Win Butler ängstigt das eher, als dass es ihn beflügelt. Er versucht, sich von diesem ganzen Rummel, der spätestens seit dem zweiten Album "Neon Bible" um ihn und seine Bandkollegen herrscht, so gut es geht zu lösen. Dabei wirkt seine Verbissenheit, bloß keine Allüren zu entwickeln, wie eine einzige große Allüre.
Sie zahlt sich allerdings aus: Denn Butlers Hang zur Selbstdisziplinierung, die Bodenhaftung nicht zu verlieren, sensibilisierte ihn wieder für seine Jugend und für die Frage, inwieweit wir uns davon lösen können, wie wir aufgewachsen sind. Seine ernüchternde Antwort: Gar nicht! Kindheit und Pubertät halten die prägendsten Ereignisse parat. Von selbstzerfleischender Erniedrigung bis zu ausufernder Euphorie ist die gesamte Gefühlsklaviatur vertreten. Ein Leben lang tragen wir diese intimen Momente mit uns herum, um sie zu verklären oder zu verdrängen.
Auslöser für die erneute Reise in die Vergangenheit war ein Foto, das Butler von einem Jugendfreund geschickt wurde. Es zeigt den einstigen Kumpel vor dem Einkaufszentrum, in dessen Einzugsbereich er als Jugendlicher lebte. Auf seinen Schultern: seine Tochter. "Ich versuchte daraufhin, die Erinnerung an die Stadt meiner Kindheit so gut wie möglich wieder zusammenzusetzen."
Damit war, ohne dass es ihm zu diesem Zeitpunkt bewusst war, der Grundstein für das neue Album gelegt: Gemeinsam mit den anderen Bandkollegen, die momentan mit Arcade Fire spielen, entwarf er in der erstaunlich nüchternen Ballade "The Suburbs" (zu deutsch: die Vorstadt) das typische Gefühl der Langsamkeit, die man als Heranwachsender empfindet, wenn man eigentlich an nichts anderes denkt, als endlich auszubrechen, das Elternhaus und die Nachbarschaft, in die man hineingeboren wurde, hinter sich zu lassen.
Der Song veranlasste Butler, mit seiner Frau und Bandkollegin Régine Chassagne dorthin zurückzukehren, wo er aufwuchs: Woodsland, eine Trabantenstadt im Speckgürtel von Houston, Texas. Die Eindrücke, die er von diesem Trip mitnahm, verarbeitete er zu weiteren 15Liedern: "Mir ging es darum, in den Songs der Frage nachzuspüren, warum es so ist, dass dieser Ort, aus dem ich komme, so etwas Unspezifisches hat", sagte Butler vor der Veröffentlichung des neuen Albums im Gespräch mit dem "Musikexpress". Identitätssuche im Niemandsland könnte man die Aktion auch nennen.
So uninspirierend triste Lattenzäune und rissige Kreisverkehre auch erscheinen mögen - für das neue Album von Arcade Fire waren sie ein Glücksfall. Mal düster und monoton, dann wieder versöhnlich, teilweise sogar hoffnungsfroh klingen die Songs. Diese gefühlsduselige Uneindeutigkeit gibt dem Longplayer eine wohlige Rätselhaftigkeit, die bei Arcade Fire neu ist.
"Funeral" war eine Hymne auf die Jugend, "Neon Bible" eine wütende Abrechnung mit der Bush-Ära. Natürlich schwang bei diesen Alben auch schon die für Arcade Fire typische Verstrahltheit mit. Die Songs boten allerdings keinen doppelten Boden: Entweder man mochte diesen tranceartigen New-Age-Rock - oder man hasste ihn.
"The Suburbs", wie nicht nur der erste Song, sondern das ganze Album heißt, ist anders. An jeder Ecke lauern Merkwürdigkeiten, alles ist düster verhangen, scheinbar trostlos, bietet aber beim genaueren Betrachten eine Fülle an guten Geschichten. Die Wärme, die Arcade-Fire-Songs sonst immer ausstrahlen, ist auch diesmal vorhanden. Man muss aber genau hinhören, um sie zu erkennen. Und das lohnt sich!