Neues R.E.M.-Album: Wie ein „Best of“ mit neuen Songs
„Accelerate“ war vor zwei Jahren ein Schnellschuss. Mit „Collapse Into Now“ sind R.E.M. wieder in der Spur.
Düsseldorf. Hand aufs Herz: Man hätte ihnen diesen großen Wurf nicht mehr zugetraut. R.E.M. waren im Laufe der Jahre einfach zu sehr zur Band geworden, von der man sagte: Ja, kenne ich. Sind gut. Aber hatten sie nach „Automatic For The People“ nochmal ’was Innovatives rausgebracht?
Natürlich hatten sie: Die Fans wussten das auch. Aber der Rest nicht. Für den endete die R.E.M.-Zeitrechnung mit jenem Klassiker aus dem Jahre 1992, der in allen Bestenlisten der Popmusik aufgeführt wird. Ob es genau daran lag, dass sich Frontmann Michael Stipe und seine beiden Kollegen Mike Mills (Bass) und Peter Buck (Gitarre) dafür entschieden, beim neuen Album alle Register zu ziehen — und nach Berlin zu gehen? In die legendären Hansa-Tonstudios?
Zumindest spricht alles an „Collapse Into Now“ dafür. Diese Studios stehen schließlich geradezu beispielhaft für Kreativität und ungebremsten musikalischen Output. David Bowie nahm hier seine Berlin-Trilogie mit dem sagenhaften „Heroes“ auf. U2 spielten hier ihren ganz persönlichen Triumph, ihre ganz persönliche Blaupause des modernen Rocks „Achtung Baby“ ein. Und jetzt waren R.E.M. da, um sich ihres 15. Studioalbums anzunehmen.
Zwar wurden Teile von „Collapse Into Now“ auch in New Orleans und Nashville eingespielt. Das hört man auch — etwa wenn die Band aus Athens/Georgia endlich mal wieder ihren grandiosen Folk rausholt. Aber es sind vor allem die Grandezza, die Opulenz, die Wucht, das überbordende Leben der deutschen Hauptstadt, die man den zwölf Songs dieser Platte anhört. Die Gesichter einer Stadt, die sich wie keine andere in den vergangenen 20 Jahren verändert hat.
Während des vergangenen Sommers war das Trio für ein paar Wochen in Berlin. Und vor allem Stipe, das Gehirn und Gesicht von R.E.M., streifte des Abends durch die Cafés und Clubs. Als Musiker besuchte er die legendäre Techno-Hochburg „Berghain“. Als ehemaliger Student der Kunst und Fotografie klapperte er die zig Galerien der Stadt ab. Und zwischendurch schrieb er Songs.
„Überlin“ zum Beispiel, diese herrliche düstere Ballade über einen Außenseiter, der allein durch die Großstadt streift. Der versucht, irgendwo Halt zu finden und die ihm Entgegenkommenden beschwört, sich ihm anzuschließen: „Let’s Try To Make Something Happen. Tonight. Right Now!“
Außerdem das orchestrale „It Happened Today“. Oder das melancholische „Oh, My Heart“, in dem Stipe singt: „This Place Is The Beat Of My Heart“ — „Dieser Ort ist mein Herzschlag“. Pulsierendes Leben und Leidenschaft überall. Dabei ist das Rezept der Band für die Aufnahme eines Albums, in dessen Stücken man wie im Großstadtdschungel versinkt, ein simples: R.E.M. nahmen einfach das Beste aus jeder Periode ihres Schaffens und steckten es in die neuen Songs.
Es gibt den ursprünglichen Garagenrock der 80er Jahre mit Alben wie „Murmur“ (1983), „Lifes Rich Pageant“ (1986) oder „Green“ (1988). Und es gibt den Folk-Pop, der den ersten Klassiker „Out Of Time“ (1991), das eingangs erwähnte grandiose „Automatic For The People“ (1992) oder das letzte starke Album „Reveal“ (2001) ausmachte.
Vor zwei Jahren erst hatten R.E.M. mit „Accelerate“ noch ihren wütenden, ein wenig hilflos erscheinenden Schnellschuss veröffentlicht: Das Album wurde in drei Wochen eingespielt und rockte mit seinen Up-Tempo-Nummern in 35 Minuten am Hörer vorbei. Bleibenden Eindruck konnte es nicht hinterlassen und wurde schnell vergessen.
Mit „Collapse Into Now“ stürzen Stipe und Co. nun urplötzlich und wortwörtlich wieder hinein ins Hier und Jetzt und melden sich zurück. Sie, die als eine der ersten Bands den alternativen Rock in den Mainstream brachten und damit Wegbereiter für viele Nachahmer waren, machen es wie die Berliner mit ihrer Stadt: Sie besinnen sich auf die eigene Historie — und bauen aus ihr die Zukunft.