Ruderboot statt Segelschiff: Der „Holländer“ von Bayreuth
Bayreuth (dpa) - Ein Trend setzt sich fort: Die Bayreuther Festspiele machen immer seltener durch spektakuläre Inszenierungen von sich reden als vielmehr durch exzellente musikalische Leistungen auf der Bühne und im Orchestergraben.
Ein Garant dafür ist „Hausdirigent“ Christian Thielemann.
Da fügt es sich, dass Samuel Youn am Mittwochabend zur Eröffnung des 101. Richard-Wagner-Festivals mit „Der fliegende Holländer“ in der Titelpartie fast schon ein Wurf gelang. Der Südkoreaner - bisher mit Nebenrollen auf dem „Grünen Hügel“ bedacht - lieferte eine überzeugende Interpretation ab und wieder einmal den Beweis dafür, dass sich das Einspringen durchaus lohnen kann.
Rückblende: Sebastian Baumgartens „Tannhäuser“-Neuinszenierung mit der riesigen Biogasanlage auf der Bühne geriet voriges Jahr beinahe zu einem veritablen Opernskandal. Katharina Wagners inzwischen eingemottete phantasiearme „Meistersinger“-Regie wurde von der internationalen Kritik allenfalls als Mittelmaß empfunden. Nur Stefan Herheims „Parsifal“-Deutung - die Inszenierung läuft in diesem Jahr aus - fand Anklang.
Hingegen werden Sängerinnen und Sänger wie Jonas Kaufmann oder Klaus Florian Vogt als Lohengrin und Annette Dasch als Elsa von Brabant oder Iréne Theorin als Isolde regelmäßig stürmisch gefeiert, wenn sie im Festspielhaus vor den Vorhang treten. Und Thielemann hat sich längst zum Bayreuther Publikumsliebling entwickelt. „Sein“ Festspielorchester hat den speziellen dunklen Wagner-Klang in den vergangenen Jahren noch einmal verfeinert.
So auch bei der Premiere der Oper „Der fliegende Holländer“ am Mittwochabend. Thielemann dehnte das Senta-Motiv in epische Breiten und ließ die stürmische See aus dem unsichtbaren Orchestergraben gewaltig aufbrausen. Vielleicht war es die sommerliche Hitze: Die Blechbläser intonierten nicht restlos sauber. Doch Thielemann führte die Solisten auf der Bühne sicher durch die Partitur, ließ ihnen genügend Spielraum für die eigene Interpretation und forderte dennoch die große Linie ein.
Samuel Youn hat die Chance ergriffen. Vier Tage vor der Premiere eingesprungen für den Russen Evgeny Nikitin lieferte er einen überzeugenden Holländer ab. Fast schon vergessen war nach dem Schlussapplaus, dass der weltbekannte Bassbariton Nikitin die Titelpartie wegen Nazi-Tattoos auf seinem Oberkörper hatte abgeben müssen. Youns nicht zu dunkel gefärbter Bass klingt vor allem in der Höhe sonor, wenn auch mitunter unnötig forciert. In der mezza voce flattert die Stimme ein wenig, aber der noch junge, an der Oper Köln engagierte Sänger hat das Zeug, zu einem ganz großen Heldenbariton zu werden.
Auch Adrianne Pieczonka wurde als Senta stürmisch gefeiert. Ihr dramatischer Sopran kann beinahe jede Männerstimme an die Wand singen - wie kollegial einfühlsam, dass sie sich im Duett mit Youn zurücknahm. Vielleicht am schönsten herüber kamen die innigen piano gesungenen Stellen ihrer Partie. Franz-Josef Selig als Sentas Vater Daland, Michael König als deren Verehrer Erik, Benjamin Bruns als Steuermann und Christa Mayer als Mary komplettierten das Solistenensemble kongenial. Und der 100-Mann-Chor (Einstudierung: Eberhard Friedrich) trumpfte stimmgewaltig auf.
Ratlose Gesichter ließ hingegen die Inszenierung des Bayreuth-Neulings Jan Philipp Gloger (Bühnenbild: Christof Hetzer, Kostüme: Karin Jud) im Publikum zurück: Ventilatorenfabrik mit wuselnden Arbeiterinnen in Kitteln statt beschaulicher Spinnstube, mickriges Ruderboot statt aufgetakeltem Segelschiff, Rollkoffer voller Dollarscheine statt goldstrotzender Schatztruhe - Gloger siedelt die Handlung im Turbokapitalismus des 21. Jahrhunderts an. Der nach Erlösung durch eine sich für ihn opfernde Frau suchende und umherirrende Holländer findet sich in der schnellen Welt nicht zurecht, auch wenn er mit noch so viel Geld um sich wirft.
Doch die Erlösung naht: Statt fabrikneue Ventilatoren zu verpacken hat sich Senta bereits ein richtiges Segelschiff im Modell gebaut. Und der Holländer wartet zunächst schon in Gestalt eines blutverschmierten Pappkameraden auf sie. Am Ende streift ihr der leibhaftige Holländer die ebenfalls von Eva längst gebastelten Engelsflügel über, alles Irdische verschwindet. Und auch das Fabrikmobiliar wird von den Matrosen, die natürlich keine Seemänner sind, sondern Geschäftsleute im Businessanzug, eilig weggeschafft.
Eine über der Bühne hängende riesige Gebrauchsanleitung für die frisch verpackten Ventilatoren - Symbol für die Wegwerfgesellschaft mit ihrer Billigware - geht in Flammen auf. Sie wird ersetzt durch die strichmännchenartige Zeichnung eines sich küssendes Pärchens - ewige Liebe siegt über die gefühlskalte Arbeitswelt. Senta stirbt den Opfertod, der Holländer findet endlich seinen Frieden, nicht ohne zuvor mit seiner Geliebten die Dollarscheine zu verbrennen - Kapitalismuskritik der feurigen Art.
Am Ende mischen sich unter die Beifallsstürme für Solisten und Dirigent Buhrufe für das Regieteam - doch in Bayreuth ist so manche Inszenierung schon ganz anders ausgepfiffen worden. Der neue „Holländer“, der auch im Jubiläumsjahr 2013 zum 200. Geburtstag Richard Wagners auf dem Spielplan stehen wird, komplettiert den Reigen der zuletzt wenig spektakulären Inszenierungen auf dem „Grünen Hügel“.