Schön besinnlich: Klassik ohne Frack
Berlin (dpa) - 2012 war ein gutes Jahr für Klassik ohne den abschreckenden „Hochkultur“-Stempel. Das kleine Label Erased Tapes, aber auch ein Erneuerer wie der Komponist Max Richter beeindruckten Fans und Kritiker mit wunderbarer Musik für ruhige Stunden.
Immer wieder schön, und das schon seit Jahren, sind die Klavier-Miniaturen des Berliners NILS FRAHM. Der Anlass für sein Album „Screws“ (Erased Tapes/Indigo) war für Frahm höchst dramatisch, ja bedrohlich: Beim Sturz aus einem Hochbett brach er sich einen Daumen. „Für ein paar Tage habe ich geglaubt, das all das vorbei sein könnte. Wie jämmerlich“, erinnert sich der 30-jährige Pianist an die Tage nach dem Malheur. Aber er machte das Beste daraus - ein Album, dessen neun hauchzarte Stücke er mit neun funktionsfähigen Fingern einspielte, obwohl ihm sein Arzt den Umgang mit dem Klavier verboten hatte.
Zum Glück für den Hörer, kann man sagen. Denn diese Solo-Piano-Preziosen gehören zum Anmutigsten, was Frahm (ein Mitglied der Berliner Neoklassik- und Artpop-Szene um Peter Broderick, Olafur Arnalds und die dänische Band Efterklang) seit seinem Debüt von 2005 eingespielt hat. Meditativ-versonnene, aber nie abgehobene Musik am Rande der Stille ist auf „Screws“ zu hören, und man kann das Klavier in diesen vom Künstler selbst als „kleine Lieder“ bezeichneten Stücken oft regelrecht atmen hören, so transparent ist das Album abgemischt. Zum Abschluss des kleinen Jubiläums „Fünf Jahre Erased Tapes“ ein weiteres Highlight der Label-Historie.
Die junge Britin POPPY ACKROYD wählte für ihr Neoklassik-Debüt einen breiteren Pinselstrich als Frahm (der dem Werk in seinem Berliner Durton-Studio dann den letzten Schliff verlieh). Die in Edinburgh lebende Musikerin und Komponistin hat mit „Escapement“ (Denovali/Cargo) ein atmosphärisches Album mit moderner Kammermusik eingespielt. Es knüpft an die ebenfalls in diesem Jahr erschienene, sehr empfehlenswerte Instrumental-Platte „Archipelago“ von Hidden Orchestra an - einem schottischen Triphop/Jazz-Projekt, an dem Ackroyd beteiligt ist.
Im Mittelpunkt von „Escapement“ stehen kleine Piano-Melodien, um die herum Ackroyd Violine, leichtes Schlagwerk und gelegentlich auch Tape-Aufnahmen von Naturgeräuschen gruppiert. Einige Tracks wie „Rain“ wirken impressionistisch hingetupft, andere entwickeln eine an die Minimal Music von Philip Glass oder Steve Reich erinnernde Sogwirkung. Ein Album, das so bezaubernd wie beruhigend klingt.
Während Frahm und Ackroyd noch Geheimtipp-Status haben, steht der in Berlin arbeitende Brite MAX RICHTER mit einer außergewöhnlichen Platte derzeit weit oben in den Klassik-Charts. Er hat eines der bekanntesten Werke der Musikliteratur mit radikaler Methode neu zum Leben erweckt - indem er Vivaldis 1725 erschienenen Zyklus „Die vier Jahreszeiten“ auseinanderschraubte, auf seine Modernität sezierte und in nie gehörter Form wieder zusammensetzte.
Teilweise bleiben nurmehr Spurenelemente des Originals übrig, anderswo stellt Richter frische Zusammenhänge her oder betont den melancholischen Charakter der Musik. So gewinnt das bei der ehrwürdigen Deutsche Grammophon veröffentlichte Album „Recomposed by Max Richter - Vivaldi The Four Seasons“ einem fast totgenudelten spätbarocken Meisterwerk neue Facetten ab. „Vivaldis Kompositionen offenbarten sich mir als sehr einladend“, sagt Richter. Die Musik bestehe „aus Mustern, sogenannten Patterns, ich erkannte in ihr die Grundlagen, derer sich später im 20. Jahrhundert auch die Minimal Music bediente“.
Der 46-Jährige hat seit dem Solodebüt „Memoryhouse“ (2002) seine „Post Classic“-Kompositionen mit Elektronik und Filmmusik („Waltz With Bashir“) in Berührung gebracht. Und so lassen sich Verfremdungs- und Soundtrack-Effekte auch in dieser fabelhaften Vivaldi-Bearbeitung finden (etwa in „Summer 3“ oder „Autumn 3“), ohne dass es je breiig oder banal klingt. Im virtuosen Zusammenspiel des Geigers Daniel Hope mit dem Konzerthaus-Kammerorchester Berlin unter Leitung von André De Ridder ist ein topaktueller „Jahreszeiten-Remix“ entstanden - und ein neues Werk von ganz eigenem Wert.