Udo Jürgens traf den Zeitgeist
München (dpa) - Udo Jürgens wurde auf vielen Partys erst zu später Stunde gespielt: Lieder wie „Griechischer Wein“, „Ich war noch niemals in New York“ oder „Ein ehrenwertes Haus“ brachten sogar weit nach Mitternacht müde Gäste wieder zum Tanzen.
Solche Feste wird es auch in Zukunft geben - nur Jürgens selbst ist nicht mehr da. Der plötzliche Tod des Schlagerstars macht viele traurig, auch die, die nicht unbedingt zu den Fans des 80-Jährigen zählen. Mit seinen eingängigen, swingenden Melodien verbinden sie schöne Erinnerungen, alte Menschen ebenso wie ganz junge. Und es bleibt die Frage: Wird es so einen großen Musiker wieder geben?
„Man wird so schnell keinen anderen mehr finden“, glaubt der Chefredakteur der Musikwoche, Manfred Gillig-Degrave. Jürgens sei ein Phänomen gewesen. „Er ist ein großer gemeinsamer Nenner, eine große Brücke von den 1960er Jahren bis in die Gegenwart und immer mitten im Leben“, sagt der Musikexperte. Auch der künstlerische Direktor der Popakademie Baden-Württemberg in Mannheim, Udo Dahmen, hält Jürgens für einzigartig. Nicht zuletzt, weil er jahrzehntelang erfolgreich war, als Komponist, Musiker und Chansonnier: „Da wird man lange suchen müssen, um jemanden zu finden, der so vielseitig war und mit so einer hohen Professionalität seine Arbeit ausgeübt hat“.
Ein Musikbesessener, mit Hang zur Perfektion, der seine eingängigen Melodien mit einer hervorragenden Bigband veredelte und stets die Gratwanderung wagte, „zwischen Mainstream und eigener Farbe“, wie Dahmen es nennt. Jürgens war keiner dieser schnell hochgeputschten Retortenmusiker, die mit kurzer medialer Allgegenwärtigkeit ein paar Hits landen, dann aber ebenso schnell wieder verschwinden. Er hatte eine klassische Musikausbildung am Mozarteum in Salzburg genossen, spielte Jazz und begleitete sich selbst auf seinem berühmten Flügel.
Der Musikproduzent Ralph Siegel glaubt dennoch, dass es auch andere deutschsprachige Sänger vom Kaliber eines Udo Jürgens gibt - der ihm ein guter Freund war. „Jede Zeit hat ihre eigenen Musiker“, findet Siegel und nennt Künstler wie Udo Lindenberg, Xavier Naidoo oder Herbert Grönemeyer.
Menschen bewegen, unterhalten und gleichzeitig seine Botschaften vermitteln, das konnte Jürgens aber wie kaum ein anderer. Oft war er ein kritischer Beobachter der Gesellschaft und traf bis zuletzt den Zeitgeist. So in seinem neuen Album „Mitten im Leben“, auf dem er in „Der gläserne Mensch“ die Internet-Spionage und die Gefahren sozialer Netzwerke anprangerte. Oder 1974, als er im „Ehrenwerten Haus“ die Spießeridylle aufs Korn nahm. Unvergessen sein Mutmachlied: „Immer wieder geht die Sonne auf“. Und natürlich die Satire über Kaffeekränzchen und Buttercreme-Herrlichkeit von „Mathilde, Ottilie, Marie und Liliane“ - „Aber bitte mit Sahne“, für die er heftig von Seniorenverbänden kritisiert wurde.
Doch was macht den Erfolg von Jürgens aus, dem smarten Frauenschwarm mit dem unwiderstehlichen Charme, dessen Bühnenauftritte im weißen Bademantel legendär waren? Der mit einer unbändigen Energie gesegnet war, der noch bis kurz vor seinem Tod auf der Bühne Steppeinlagen darbot und sein Publikum begeisterte. Und der als junger Mann erklärt hatte: „Ich will 107 Jahre alt werden.“ Begabung, ganz klar, vor allem aber Fleiß, Kreativität und Ehrgeiz, glaubt Ralph Siegel, der in den 1970er Jahren zahlreiche Erfolgsschlager produziert hatte.
Udo Jürgens wollte aber nie auf seine Partyhits wie „Griechischer Wein“ oder „Ich war noch niemals in New York“ reduziert werden. Bei einem seiner letzten Konzerte vor vier Wochen in München vertröstete er das Publikum gleich zu Beginn, dass er die Songs schon noch spielen werde - aber erst ganz zum Schluss und im Schnelldurchlauf. Darauf verzichten konnte er nicht, hatte ihm doch ein Fan extra geschrieben: Er habe „Angst, dass die alten Lieder bei der Tournee nicht gespielt werden.“ Udo Jürgens wirkte ratlos, als er auf der Bühne davon erzählte.
Die stärksten Momente seiner mehr als dreistündigen Show waren dann auch nicht die Ohrwürmer, die alle mitsingen konnten. Sondern Balladen, die viele im Publikum zu Tränen rührten: Etwa das Lied „Der gekaufte Drachen“, in dem Udo Jürgens von einem erfolgreichen Unternehmer erzählt, der seine Fabrik dem einzigen Sohn überlassen möchte. Aber der Kleine wünscht sich etwas ganz anderes von seinem Vater: Nämlich Zeit, um mit ihm einen Drachen zu bauen. Viele seiner echten Fans liebten ihn gerade für seine sentimentalen Stücke, die den Partygängern heute weniger bekannt sind. Mit zunehmendem Alter wurde diese Seite immer stärker. Doch schon als junger Mann war der Österreicher manchmal melancholisch. So sang er schon 1967 über die vielen Abschiede im Leben - von der Kindheit, von den besten Jahren und dem Leben überhaupt: „Dann kommt der große Abschied von der Zeit. Es gibt kein Wiedersehen, war sie auch noch so schön.“