Reinhold Messner: „Ich bin der Eroberer des Nutzlosen“

Bergsteiger-Legende Reinhold Messner spricht im WZ-Interview über die Überlebenskämpfe seines Lebens, die Kunst der Sprachbilder und Emmanuel Macrons Zukunftserzählung für Europa.

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Düsseldorf. Man könnte bei einer Beschreibung von Reinhold Messner in Superlativen waten — so sehr, dass der Text irgendwann darin ertrinken würde. Der heute 73 Jahre alte Bergsteiger hat den Begriff des Extremen neu definiert. Die Herausforderung, in Todesgefahr zu überleben und sich danach wie wiedergeboren zu fühlen, war sein Lebenselixier, nicht nur bei dem von 1970 bis 1986 währenden Weg, als erster Mensch auf allen 14 Achttausendern der Erde zu stehen — und das ohne zusätzliche Sauerstoffversorgung.

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Messners vor vier Jahren erschienenes Buch „Überleben“ zerteilt das Wort in die Unterkapitel „Üb Leben“, „Überleben“ und „Über Leben“. Derzeit ist der gebürtige Südtiroler und italienische Staatsangehörige wieder auf Vortragstour — und hat dabei einen Wunschtraum, von dem er nicht glaubt, dass er sich noch zu seinen Lebzeiten erfüllt: die europäische Staatsbürgerschaft. Ein Gespräch mit einem wortgewaltigen Überlebenskünstler.

Herr Messner, mussten Sie das erste Mal schon unter acht Geschwistern überleben?

Reinhold Messner: Nein, ich hatte als Kind nie das Gefühl, dass es in der Familie schwierig ist zu überleben. Im Gegenteil: In meiner Familie war ich eingebettet wie in einem Nest. Wir Kinder haben uns natürlich gerieben und sind damit zu erwachsenen Persönlichkeiten geworden. Aber die Größeren haben auf die Kleineren aufgepasst und wir haben mehr oder weniger wie die Menschen vor 5000 Jahren gelebt.

Wie oft haben Sie bei Ihren Expeditionen das Gefühl gehabt, um Ihr Überleben kämpfen zu müssen?

Messner: Generell bin ich an Widerständen gewachsen. Mir ist sehr viel Gegenwind entgegengekommen und heute denke ich, dass ein wesentlicher Teil meines Erfolges daraus erwachsen ist, weil Widerstände stark und kreativ machen und besonderen Einsatz hervorrufen. Allerdings würde ich meinen Erfolg gerne in Anführungszeichen setzen, weil er irrelevant ist. Ich habe ja nichts für die Menschheit getan. Ich bin der Eroberer des Nutzlosen.

Und im ganz existenziellen Sinn?

Messner: Ich habe bisher an die 3500 Bergtouren gemacht und mehr als hundert Expeditionen. Aber ich kann an den Fingern einer Hand abzählen, wo es wirklich um Leben oder Tod ging. Ich bin ein sehr vorsichtiger Mensch und wenn es im Vorfeld Ängste gab, habe ich meine Logistik entsprechend geändert und mein Training verbessert, um diese Ängste abzubauen, und dann bin ich mit einem Restrisiko losgefahren. Diesem Restrisiko habe ich meinen Mut entgegengesetzt, den ich nur brauche, weil ich auch Angst habe.

Aber es sind auch vier Menschen bei Ihren Expeditionen gestorben, darunter 1970 am Nanga Parbat im Himalaja auch Ihr Bruder. Warum setzt man sich dieser Gefahr trotzdem weiter aus?

Messner: Die Tragödie mit meinem Bruder war das Schlimmste, das ich erlebt habe, weil er eben mein Bruder war und wir mehr als tausend Klettertouren zusammen gemacht hatten. Ich bin der Übriggebliebene und darum bleibt mir auch die ganze Verantwortung dieer Geschichte. Aber ich bin acht Jahre später ganz allein von der Basis wieder auf diesen Gipfel gestiegen. Und zwar nicht, um mit dieser Tragödie zurechtzukommen, sondern weil dieser erste Alleingang auf einen Achttausender eine neue Herausforderung geworden war.

Und das war in Ihrer Jugend auch schon so?

Messner: Als ich mit 16 Jahren mit meinem Bruder selbstständig die ersten großen Touren gemacht habe, war uns klar, dass wir keine Fehler machen durften, weil es höllisch gefährlich war. Dass uns die Mutter hat ziehen lassen, hat uns die Möglichkeit gegeben, überhaupt in diese Dimensionen hineinzuwachsen. 99 Prozent der Kinder, die das anfangen, erhalten ein Verbot und gehen nie mehr bergsteigen. Später kommt dann der Ehrgeiz dazu, etwas zu machen, was noch niemand gemacht hat.

Was lernt man beim Überleben über das Leben?

Messner: Maß zu nehmen. Das kann ich an keinem Naturobjekt besser als an den Bergen. Das Maß sind dabei nicht die 8000 Meter. Ich messe, wie viel Hoffnungslosigkeit, wie viele Ängste, wie viel Gefühl des Wiedergeborenseins in mir ist. Das alles hole ich mir beim Bergsteigen an die Oberfläche.

Wo können Ihre Extremerfahrungen überhaupt hilfreich sein für ein braves Bürgerleben im alpinistisch ungefährlichen Rheinland?

Messner: Die allermeisten Menschen können diese Erfahrungen, die ich gemacht habe, nicht machen. Das ist kein Vorwurf, sondern Verständnis. Nur ein paar Prozent sitzen in meinen Vorträgen, die Ähnliches gerne gemacht hätten, denen es aber nicht vergönnt war, weil sie etwas Vernünftiges getan haben: eine Familie gründen, ein Haus bauen. Und jetzt kommt dieser Eroberer des Nutzlosen und erzählt ihnen, was sie hätten machen können. Ich habe das nicht als Stellvertreter für sie getan, aber heute sehe ich mich so. Die Kunst besteht darin, diese Erfahrungen in Sprachbilder zu fassen, damit es jeder versteht, auch derjenige, der nie etwas Höheres als einen Barhocker bestiegen hat.

Können Sie denn Ihre Risiken und Überlebenskämpfe heute noch nachvollziehen oder verstehen Sie sich selbst manchmal nicht mehr?

Messner: Ich verstehe mich im Rückblick wahrscheinlich besser als früher. Aber ich bringe eine erinnerte Wirklichkeit auf die Bühne, nicht die Wirklichkeit selbst. Ich bin, während ich erzähle, nicht im Saal. Da ist nur mein Körper. Ich bin in den einzelnen Momenten, und damit schaffe ich Emotionen und eine Unmittelbarkeit, die die Menschen in diese erinnerte Wirklichkeit mitnehmen.

Gibt es Entscheidungen in Ihren persönlichen Überlebenskämpfen, die Sie bereut haben?

Messner: Das bringt nichts. Vom Nanga Parbat zurückzukommen und zu sagen, mein Bruder ist tot, ich hätte nie aufbrechen sollen, das ist zu spät. Natürlich sage ich mir, dass so etwas nie mehr passieren darf. Wir haben damals Fehler gemacht. Im Grunde hätten wir ab dem Moment, als wir zusammenkamen und nicht mehr als zwei Einzelne unterwegs waren, sagen müssen: nichts wie zurück. Aber wir sind stillschweigend weitergegangen, weil wir die höchste Steilwand der Welt durchstiegen hatten und uns diesen Erfolg nicht nehmen lassen wollten, indem wir auf den Gipfel verzichtet hätten. Dann kamen wir von einer Falle in die nächste. Dass ich das überlebt habe, ist ein reines Wunder.

Vermissten Sie diese Herausforderungen heute?

Messner: Ich habe in den vergangenen 20 Jahren die größte Herausforderung meines Lebens angenommen, ohne Subventionen ein Bergmuseum auf die Beine zu stellen, das heute das mit Abstand erfolgreichste Bergmuseum der Welt ist. Die Fachleute hatten mir noch mehr als bei den Achttausendern gesagt: Herr Messner, Sie haben keine Chance. Während des Umsetzens hatte ich dann wie bei meinen Expeditionen das Gefühl Stück für Stück gelingenden Lebens. Ich verwalte meine Erfolge nicht, sondern suche mir neue Herausforderungen. Aktuell habe ich eine Filmfirma gegründet und versuche Berggeschichten auf die Leinwand zu zaubern.

Welchen Tribut mussten Sie körperlich bezahlen? Ihnen wurden immerhin schon 1970 sieben Zehen amputiert.

Messner: Ich habe sicher einige Handicaps, die auf diese Schinderei zurückzuführen sind. Leidenschaft ist ohne Leiden nicht zu haben. Ich habe zum Beispiel einen für mein Alter zu niedrigen Ruhepuls von 44, weil ich ihn durch das Training in meinen jungen Jahren gedrückt habe. Es gibt auch kleine Probleme mit den Beinen. Aber ich reise immer noch in den Himalaja oder den Kaukasus und komme relativ fit die Berge rauf. Also hat es mir wahrscheinlich weniger geschadet, als wenn ich ein Managerleben gelebt und jetzt ein Herzinfarktrisiko hätte.

Haben Sie noch eine innere Anbindung zur heutigen Bergsteigerszene?

Messner: Ich habe eine sehr enge Verbindung mit einigen Spitzenbergsteigern wie Hansjörg Auer, den ich für einen der genialsten traditionellen Bergsteiger halte. Aber vor bald 45 Jahren habe ich begonnen, die Entwicklung des Felskletterns aufzuschreiben. Als das Buch jetzt wieder neu aufgelegt werden sollte, habe ich die letzten zehn Jahre nicht mehr beschreiben können, weil mir inzwischen der Zugang fehlt. Das hat dann mein Sohn übernommen.

Sie sind ein politisch denkender Mensch und gehörten fünf Jahre dem Europaparlament an. Etwas pathetisch gefragt: Wie überlebt die Welt?

Messner: Ich bin kein Pessimist. Ich bin Possibilist, ich halte das Jenseitige offen. Und ich lasse auch offen, wie sich die Menschheit weiterentwickelt. Aber die Natur und das Leben werden sich länger auf dieser Erde erhalten als der Mensch. Und von Marsfahrten halte ich relativ wenig. Wir sollten alles daransetzen, dass wir auf dieser Erde ausgeglichen und in Gerechtigkeit überleben können. Es gibt im Moment einen Politiker, dem es gelingt, Europa aus der Vergangenheit heraus in die Zukunft zu erzählen, und das ist Emmanuel Macron. Wir in Europa haben die Chance, eine neue Form des Zusammenlebens zu finden. Das ist die Herausforderung der Politik.