Demis Volpi stellt mit „Geschlossene Spiele“ ein surrealistisches, gesellschaftskritisches Tanzstück für das Ballett am Rhein vor Willkürliche Justiz demaskiert
Düsseldorf · Handlungsballett? Eher surrealistisches Tanztheater, absurde Slapstick-Collage, innovative Gesellschaftsparabel. Ein Corona-Jahr lang hat das Publikum auf Demis Volpis erstes klassisches Erzählballett gewartet – schließlich hatte man ihn ja vor allem deshalb hergeholt.
Doch der neue 36-jährige Chefchoreograf und Direktor des Balletts am Rhein zeigt der Erwartungshaltung eine lange Nase und greift sich mit Julio Cortázar einen Schriftsteller seiner argentinischen Heimat.
Dieser war schon als Kind vor seinem unglücklichen Alltag ins Fantastisch-Surreale geflohen und sollte zu einem der führenden Vertreter der fantastischen Literatur werden. Sein Schauspiel „Geschlossene Spiele“ („Nada a Pehuajó“), angesiedelt in der argentinischen Militärdiktatur (1976-1983), verhandelt darüber, ob ein Mensch über das Leben eines anderen entscheiden darf. Volpi macht sich darauf seinen originellen, bewegten Reim.
Schauplatz ist ein argentinisches Lokal mit Postschalter, Klavier und altem Radio. Ein weiß gekleideter und gepuderter Mann mit Melone (Orazio Di Bella) sitzt schon am Tisch. Er genießt, warum auch immer, Autorität. Der Richter wird ihn gegen Ende um Gnade anbetteln. Noch versetzt die mysteriöse Figur weiße Teile des Tischgedecks wie Schachfiguren hin und her, bewegt sich skurril und akrobatisch zwischen Tisch und Stuhl. Nach und nach treffen weitere Individualisten ein. Zwei exzentrisch aussehende Kellner mit Dalí-Schnauzbärten schieben sich seitwärts mit kleinen Fußbewegungen in den Raum.
Volpi überzeichnet schwungvoll den Auftritt jeder einzelnen Person zum Ereignis. So auch den des schlaksigen Kunden (Dukin Seo), der Gepäck aufgeben will und seine Gliedmaßen durchbiegt, als wäre er aus Knetmasse. Er trägt auf jeder Seite drei Koffer und schiebt mit jedem Fuß einen weiteren. Das aufgegebene Gepäck taucht kafkaeskerweise immer wieder auf der anderen Seite des Raums auf. Die amerikanische Touristin ist eine Kaugummi kauende Dolly Parton (Simone Messmer), die sich später umzieht, um als klassische Ballerina, ohne jeden inhaltlichen Anlass, ein Solo zu zeigen. Alexander Ivanov interpretiert am Klavier dazu eine geschmeidige Collage aus diversen Komponisten wie Ennio Morricone, Luciano Berio und Elliott Carter.
Alle Figuren sind in ihren Bewegungen gekonnt charakterisiert. Witzig, wie Herr López (Eric White), der querulante Gast, einen Arm hartnäckig kreisen lässt, bis er Aufmerksamkeit erregt. Bis hierhin ist das Stück von Leichtigkeit geprägt, von der politischen Doppelbödigkeit der literarischen Vorlage ist noch nichts zu spüren.
Mit López kippt die Stimmung allmählich. Denn er möchte das lebendige Suppenhuhn verspeisen, und so entzündet sich Cortázars gesellschaftspolitisches Thema über Recht und Unrecht. Volpi gelingt es, aus der Witzfigur des Huhns, ein Tänzer in hautfarbenem Trikot und mit gerupftem Hähnchen als Kopf (Miquel Martínez Pedro), ein berührendes Opfer zu machen. Wenn es nach einem geschmeidigen Barfuß-Solo in Anlehnung an den Sterbenden Schwan schließlich resigniert seinen Kopf in den Teller des Gastes legt, lacht niemand mehr.
Das neuralgische Zentrum des Geschehens bildet der autoritäre Richter (stark: Niklas Jendrics). Seine Szenen werden von bedrohlichen Paukenschlägen begleitet. Er trägt eine Waage mit sich, um für seine Diät Möhren abzuwiegen. „Nehmen wir mal an, auch ich finde es abstoßend, dass es Richter gibt, die Möhren und Köpfe auf derselben Waage wiegen,“ lässt Cortázar den Kunden am Postschalter im Original sagen.
Die Scharfsinnigkeit der gesprochenen Worte geht im Tanzstück natürlich verloren. Wie überhaupt die politische Dringlichkeit des Dramas verblasst. Was bleibt, sind der abgründige Humor und die gemeinschaftliche Empörung. Denn der Nachrichtensprecher im Radio berichtet mehrfach von einem Todesurteil gegen einen Mann, das am Ende trotz dessen Unschuld vollzogen worden ist. Die bildliche Schlinge um den Hals des verantwortlichen Richters wird immer enger, die Gruppe rückt ihm auf den Leib. Aus dem hoch in der Wand angebrachten Speisenaufzug sieht er einen Kellner am Galgen baumeln und gerät in Panik. Seine Kontrolliertheit gerät zur Farce: Der Mann in schwarzer Robe schwitzt und windet sich hin und her.
Wenn er am Ende flieht und die willkürliche Justiz demaskiert ist, hat sich der Abend zu einer Einheit gerundet. Demis Volpi ist es gelungen, aus Cortázars komplexem Schauspiel ein innovatives, unterhaltsames Tanzstück mit gesellschaftskritischen Untertönen zu formen. Wenn auch tänzerisch nicht alles lupenrein ist. Nein, ein Handlungsballett mag man das nicht nennen. Aber dem Publikum, das dem strahlenden Ballettchef zujubelte, war es für dieses Mal gerade recht.
Weitere Aufführungen am 10. Oktober, 4., 5., 26. November sowie am 20. und 28. Dezember im Opernhaus Düsseldorf. Dauer: ca. 60 Minuten ohne Pause