Der vergessene Bürgermeister
Vor fast 122 Jahren starb der Mann, der die aufstrebende Stadt Burscheid in die Moderne geführt hat.
Burscheid. Krzystof Malinowski kommt viel herum in Europa. Zur Zeit arbeitet er in Burscheid. Auf jeder seiner Stationen besucht Malinowski auch die Friedhöfe. „Sie sagen viel aus über die Gesellschaft in einer Stadt“, sagt er. Ein Ehrengrab der Stadt auf dem Friedhof Altenberger Straße hat ihn so verwundert, dass er sich beim Bergischen Volksboten meldet. „Hier ruht Herr Bürgermeister Pilgram - Ehre seinem Andenken“ steht auf der verrutschten schwarzen Grabplatte. Und inmitten üppig wuchernden Unkrauts ein kleines Schild: „Pflege: Stadt Burscheid“. Würdiges Andenken sieht anders aus.
Auf die erste Frage — „warum sieht das Grab so verkommen aus?“ — folgt unweigerlich eine Zweite: „Wer war Bürgermeister Pilgram.“ Weder Vorname noch Lebensdaten stehen auf dem protestantisch schlichten Stein. Und auch bei der Stadt ist man nicht gleich sicher, um wen es sich da eigentlich handelt.
Stadthistorikerin Marie—Luise Mettlach weiß mehr. Ihre Spurensuche führt zielstrebig zurück in eine Zeit, als Burscheid noch Boomtown im Bergischen war. Eine Zeit, die heute als gemütliche „gute, alte Zeit “ bezeichnet wird, die aber die Zeitgenossen mit radikalen Umbrüchen konfrontierte.
Als Robert Pilgram 1871 mit 50 Jahren Bürgermeister von Burscheid wurde, war das Deutsche Kaiserreich gerade einmal einen Monat alt. Die Industrialisierung schlug in dem bäuerlichen 5700 Seelen-Flecken endgültig durch. Es bedurfte eines Machers, eines Managers, und dieser war — ausgerechnet Bürgermeister im Nachbar-Flecken Bergisch Neukirchen. Seinem Rentmeister — heute Stadtkämmerer — Gottlieb Grell gegenüber äußerte Pilgram später, dass er den Posten nur übernommen habe, weil Burscheid besser bezahlte als Bergisch Neukirchen. Neben Grells Familie wohnte der Single Pilgram im Obergeschoss des damals neuen Rathauses an der Hauptstraße 62. Im ehemaligen Sitzungssaal des Rats ist heute ein Friseursalon untergebracht. Grell beklagte bereits 1927, dass Pilgram zu Unrecht in Vergessenheit geraten sei.
Eine seiner ersten Amtshandlungen war die Überführung der privaten Bürgerschule in städtische Hände. Später wurde aus ihr das Pastor-Löh-Gymnasium. Kurz darauf errichtet die Stadt die zweite evangelische Volksschule an der Höhestraße 7, dort, wo heute das Rathaus steht. Wenig später wurde die katholische Volksschule erweitert, eine Maßnahme, die in Zeiten des Kulturkampfs zwischen Katholiken und Protestanten als ausgleichend verstanden werden muss.
Auf städtische Kosten ließ er 1871, zu Beginn seiner Amtszeit, den einsturzgefährdeten Turm der evangelischen Kirche erneuern. 1892, gegen Ende seiner Dienstzeit, wurde die katholische Kirche an der Höhestraße geweiht — die erste in Burscheid seit 300 Jahren. Vielleicht hatte Pilgram bei seinen Bemühungen um Ausgleich seinen Bruder Friedrich vor Augen, der — damals unerhört — zum katholischen Glauben konvertierte und im protestantischen Berlin die Zeitung Germania gründete, die zum Zentralorgan der katholischen Zentrumspartei wurde.
Auch die erste städtische Wasserleitung, die Gasanstalt und das von vielen heute vermisste Burscheider Krankenhaus — gestiftet vom ins spanische Cadiz ausgewanderten Burscheider Kaufmann Karl Budde — fielen in seine Amtszeit. Das Ereignis des Jahrhunderts, damals so spektakulär wie später die Mondlandung, war der erste Zug, der an einem verregneten 15. Oktober 1881 in Burscheid hielt. Auch der Anschluss ans deutsche Bahnnetz ist heute wieder Geschichte. Geblieben ist der Global Player Federal Mogul, der die 1887 gegründete Goetze AG übernommen hat.
Robert Pilgram starb am 29. Oktober 1893 im Amt. Beerdigt ist er auf dem Friedhof Altenberger Straße, zweite Reihe hinter der Kapelle. Das Grab ist schmucklos, aber inzwischen von Unkraut befreit. Nach seinem Nachfolger wurde die Bürgermeister-Schmidt-Straße benannt. Eine Ehrung, die auch Robe t Pilgram verdient hätte. Er war der Weichensteller Burscheids auf dem Weg in die Moderne.