Hochschule Kölner Forschungsgruppe entziffert rätselhafte Schrift aus der Antike
Köln · Das zentralasiatische Kuschana-Reich zählte zu den einflussreichsten Staaten der Antike. Einem Team von Nachwuchswissenschaftlern der Kölner Uni ist es gelungen, eine Schrift zu entschlüsseln, die der Wissenschaft seit über siebzig Jahren Rätsel aufgibt: die Kuschana-Schrift.
Über einen Zeitraum von mehreren Jahren untersuchten Svenja Bonmann, Jakob Halfmann und Natalie Korobzow Fotografien von in Höhlen gefundenen Inschriften sowie Schriftzeichen auf Schalen und Tontöpfen aus verschiedenen zentralasiatischen Ländern, um das Puzzle nach und nach zusammenzufügen.
Im März gaben sie ihre partielle Entzifferung der unbekannten Kuschana-Schrift bei einer Online-Konferenz der Akademie der Wissenschaften der Republik Tadschikistan erstmals bekannt. Aktuell können 60 Prozent der Schriftzeichen gelesen werden, am verbleibenden Rest arbeitet die Gruppe intensiv.
Die unbekannte Kuschana-Schrift ist ein Schriftsystem, das in Teilen Zentralasiens zwischen 200 v. und 700 n. Chr. in Gebrauch war und sowohl mit frühen Nomadenvölkern der eurasischen Steppe wie den Yuèzhī als auch mit der Herrscherdynastie der Kuschana in Verbindung gebracht werden kann. Die Kuschana gründeten ein Imperium, das unter anderem für die Ausbreitung des Buddhismus bis nach Ostasien verantwortlich war. Sie schufen zudem monumentale Architektur und Kunstwerke.
Mehrere Dutzend kurze Inschriften sind bislang bekannt
Bislang sind mehrere Dutzend zumeist kurze Inschriften bekannt, die mehrheitlich aus dem Gebiet der heutigen Staaten Tadschikistan, Afghanistan und Usbekistan stammen. Es existiert auch ein längerer dreisprachiger Text, der in den 60er Jahren von französischen Archäologen am Dašt-i Nāwur in Afghanistan gefunden wurde: auf einem Felsblock auf 4320 Meter Höhe am Berg Qarabayu etwa 100 Kilometer südwestlich von Kabul.
Das Schriftsystem ist seit den 50er Jahren bekannt, konnte jedoch bislang nicht entziffert werden. 2022 wurde in der Almosi-Schlucht im Nordwesten Tadschikistans ein kurzer zweisprachiger Text gefunden, der in eine Felswand geritzt war. Neben der unbekannten Kuschana-Schrift enthält er auch einen Abschnitt in der bereits bekannten baktrischen Sprache. Diese Entdeckung führte dazu, dass mehrere Forscherinnen und Forscher unabhängig voneinander einen erneuten Entzifferungsversuch in Angriff nahmen. Den Kölner Linguisten gelang am Ende die partielle Entzifferung des Schriftsystems in Zusammenarbeit mit dem tadschikischen Archäologen Bobomullo Bobomulloev, der maßgeblich am Fund und an der Dokumentation der Bilingue beteiligt war.
Dabei nutzte das Team eine Methodik, die sich an erfolgreichen früheren Entzifferungen wie denen der ägyptischen Hieroglyphen mithilfe des Rosetta-Steins, der altpersischen Keilschrift oder der griechischen Linear-B-Schrift orientierte: Bonmann, Halfmann und Korobzow zogen anhand des bekannten Inhalts der zweisprachigen Inschrift aus Tadschikistan und der dreisprachigen Inschrift aus Afghanistan nach und nach Rückschlüsse auf Schrifttyp und Sprache.
Den Durchbruch ermöglichten schließlich der in beiden baktrischen Paralleltexten auftauchende Königsname Vema Takhtu und der Titel „König der Könige“, die in den entsprechenden Abschnitten in der unbekannten Kuschana-Schrift gleichermaßen ausfindig gemacht werden konnten. Insbesondere der Titel erwies sich als guter Indikator für die zugrunde liegende Sprache. Unter Zuhilfenahme des baktrischen Paralleltextes konnten die Linguisten Schritt für Schritt weitere Zeichenfolgen analysieren und immer neue Lautwerte einzelner Schriftzeichen bestimmen.
Vergleich mit der Entschlüsselung der Maya-Glyphen
Den Forschern zufolge hielt die Kuschana-Schrift eine bislang unbekannte mitteliranische Sprache fest. Vermutlich nimmt die Sprache eine Mittelstellung in der Entwicklung zwischen dem Baktrischen und dem einst in Westchina gesprochenen Khotansakischen ein. Es könnte sich dabei entweder um die Sprache der sesshaften Bevölkerung Nordbaktriens, Gebiet des heutigenTadschikistan, handeln oder um die Sprache einiger Nomadenvölker Innerasiens, der Yuèzhī, die ursprünglich im Nordwesten Chinas lebten. Für einen gewissen Zeitraum diente sie offenbar neben Baktrisch, Gandhari/Mittelindoarisch und Sanskrit als eine der offiziellen Sprachen des Kuschana-Reichs. Vorläufig nennen die drei Forscher die neu identifizierte iranische Sprache „eteo-tocharisch“.
Die Kölner Linguisten planen für die Zukunft in enger Zusammenarbeit mit tadschikischen Archäologen Forschungsreisen nach Zentralasien, da mit Neufunden weiterer Inschriften zu rechnen ist und vielversprechende potenzielle Fundstätten bereits lokalisiert sind. Erstautorin Svenja Bonmann sagt: „Die Entzifferung kann dazu beitragen, unser Verständnis der Sprach- und Kulturgeschichte Zentralasiens und des Kuschana-Reichs auf eine neue Grundlage zu stellen, ähnlich wie es die Entschlüsselung der ägyptischen Hieroglyphen oder der Maya-Glyphen für unser Verständnis des alten Ägypten und der Maya-Zivilisation getan haben.“