Blasmusik So klingt und tanzt und spielt das Leben

Der OVH feiert als Teil des belgischen Gastspiels „En avant, marche!“ einen furiosen Erfolg beim Schauspiel Köln.

Burscheid/Köln. Da stehen sie nun auf der Probebühne des Kölner Schauspiels in Mülheim und schütteln den Kopf. 29 Musiker des Orchestervereins Hilgen (OVH) sollen am Abend an der Premiere der Tanztheaterproduktion „En avant, marche!“ mitwirken. Jetzt ist es Nachmittag und das Kopfschütteln dient dem Test, ob die Größe für die weinroten Uniformhüte richtig gewählt ist.

Als wenig später die Probe auf der Bühne des Depots 1 beginnt, bleibt OVH-Dirigent Timor Chadik nur übrig, die eigene Kamera auszupacken und das Geschehen aus den Publikumsrängen für die Erinnerung festzuhalten. Zwei Monate hat er die geforderten vier Stücke mit seinem Orchester geprobt. Jetzt muss er das Heft des Handelns seinem Kollegen Steven Prengels und Tourmanager Steve De Schepper überlassen.

Die Atmosphäre ist konzentriert und doch gelöst. Seit das belgische Ensemble und die Burscheider Musiker am Tag zuvor das erste Mal gemeinsam geprobt haben, ist klar, dass die eigenwillige Kombination funktionieren kann: Überall, wo die international erfolgreiche Produktion aus Gent gastiert, sichert sie sich die Mitarbeit örtlicher Blasmusiker, die dann minutiöse Anweisungen zur Vorbereitung erhalten. Denn mit dem Musizieren allein ist es nicht getan: Die Bläser sind Teil der Inszenierung, sie müssen bei ihren Auftritten im wahrsten Sinn mitspielen.

Der erste Testlauf gilt Edward Elgers „Nimrod“. Bevor das Stück beginnt, strömen die Musiker erst einmal aus der Fassadenkulisse im Hintergrund nach vorne auf die Bühne, im Zeitlupentempo, wie aus der Welt gefallen. Dann erklingen die ersten Töne, das Licht ändert sich, es ist wie ein Erwachen, ein Anfang, der Neubeginn des Lebens.

Bei Verdis „Mohrensklaven“ aus der Oper „Aida“ wird es noch schwieriger. Das Orchester zieht beim Spielen in versetzten Zweierreihen einem Lindwurm gleich über die Bühne und schließlich durch die Fassade wieder hinaus. Timing, Schrittgröße, Abstände — alles muss passen.

Größte Herausforderung aber ist Jacques Nicolas Lemmens’ Komposition „Fanfare“. In zwei Reihen stehen sich die OVH-Musiker an den Bühnenrändern gegenüber. Dort verfolgen sie zunächst eine grandiose Tanzszene, müssen sich dann schräg zum Publikum ausrichten und ohne Dirigent loslegen, während das Ensemble weitertanzt.

An welchem Gesamtwerk der OVH beteiligt ist, erschließt sich den Musikern nicht. Das komplette Stück bekommen sie nicht zu Gesicht, geprobt werden nur die Auftritte des Blasorchesters. Und da verlangt das Theater mitunter etwas anderes als der Konzertsaal. Ist der OVH schon jemals aus der Probe mit dem Hinweis entlassen worden, er spiele etwas „zu schön“ und möge am Abend „nicht ganz so perfekt“ klingen?

Knapp zwei Stunden später aber fügt sich alles zu einem melancholischen Fest des Lebens. Dabei ist es doch der Tod, der immer wieder den Ton angibt und den an Kehlkopfkrebs erkrankten Posaunisten eines Blasorchesters schon an die Becken verbannt hat. Aber wie sich der fantastische Hauptdarsteller Wim Opbrouck gerade noch röchelnd auf dem Boden windet und seine Korpulenz dann wieder zu atemberaubender Leichtigkeit aufschwingt, so bäumt sich das Leben immer wieder auf gegen den nahenden Abschied: mal gierig und maßlos, fast irre, mal zärtlich und traurig.

Was ist der Einzelne, was das Ensemble? Reißen wir Lücken, wenn wir gehen, oder schließt sich alles im Strom des Lebens? Davon erzählt kein Handlungsstrang, davon erzählen Szenen, Melodien, Lieder, Tänze, Momentaufnahmen — mitreißende Collage einer Liebeserklärung an ein Leben, das unter die Haut geht.

Am Ende setzt der OVH noch einmal an, „Jupiter“ von Gustav Holst. Aus dem Off war gerade noch die Stimme von Leonard Bernstein zu hören, dann beginnt das Spiel. Wieder ändert sich das Licht, wieder liegt ein Anfang in der Luft. Der Ausklang: offen. Das Leben gibt nicht auf.

Aufgeben will auch nicht das Kölner Publikum. Die einstudierte Choreografie des Verbeugens reicht nicht aus, das Klatschen und die Jubelrufe nehmen kein Ende. Noch einmal werden alle nach vorne geholt, es gibt herzlichen Applaus der belgischen Profis für die Burscheider Gastmusiker. Auch auf der Bühne des Lebens hat sich der OVH bewährt.