Gewalt Viel mehr als gedacht: LKA beobachtet rund 100 Clans in NRW
Essen · Das Lagebild wird in den kommenden Wochen veröffentlicht. Schon jetzt steht fest: Die Zahl der Clans mit kriminellen Strukturen ist doppelt so hoch wie bisher angenommen. Mehr als 14.000 Straftaten zwischen 2016 und 2018.
Die Zahl der arabischstämmigen Clans mit kriminellen Strukturen in Nordrhein-Westfalen ist sehr viel höher als bislang angenommen. Das Landeskriminalamt hatte bisher von etwa 50 Großfamilien gesprochen, am Rande eines Symposiums zum Phänomen in Essen mit über 500 Teilnehmern aus Praxis und Forschung sagte Thomas Jungbluth, LKA-Experte für Organisierte Kriminalität jetzt, das Lagebild Clankriminalität stehe kurz vor der Veröffentlichung und: „Wir bewegen uns auf die 100 zu.“
6449 Tatverdächtige aus diesen Clans seien bislang ermittelt worden - jeder fünfte von ihnen sei weiblich. Zwischen 2016 und 2018 seien über 14.000 Straftaten diesen Verdächtigen zugeordnet worden, im Schnitt 4600 im Jahr. „Das ist das Hellfeld“, betont Jungbluth, „das Dunkelfeld dürfte sehr viel größer sein.“
Dass der Abschluss des Lagebildes so lange auf sich warten lässt, liegt auch daran, dass die Zielgruppe mit klassischen Instrumenten der Polizeistatistik nicht greifbar sei. Das zeigt sich schon bei der Frage der Nationalität: Fünf Prozent der Tatverdächtigen sei staatenlos, 15 Prozent hätten die türkische, 31 Prozent die libanesische Staatsangehörigkeit, 36 Prozent seien aber Deutsch.
Unter den Straftaten, die den Clans in den drei genannten Jahren zugeordnet wurden, sind viele Betrugs-, Eigentums- und Drogendelikte. Aber auch allein 5606 Gewalttaten und 26 versuchte oder vollendete Tötungsdelikte. Im Bereich der Organisierten Kriminalität habe es 15 Verfahren mit einer Beteiligung von Clans gegeben - darunter internationaler Drogenschmuggel, Autoschieberei und ein großangelegter Betrug mit falschen Polizeibeamten, die Senioren abzockten. Wie viel Geld die Clans mit ihren kriminellen Maschen verdienen, will Jungbluth nicht spekulieren. Im Auge habe die Task Force für Finanzermittlungen beim LKA aber auch Immobiliengeschäfte mit Strohmännern und andere scheinlegale Wege, Geld zu scheffeln.
„Wir haben in allen Kreispolizeibehörden in NRW Clan-Angehörige“, verdeutlichte der Experte. Der Großteil allerdings lebe in den Städten des Ruhrgebiets (1277 in Essen, 648 in Recklinghausen, 570 in Gelsenkirchen, 402 in Duisburg, 399 in Dortmund und 378 in Bochum). Aber selbst in Landkreisen seien die Großfamilien zum Teil spürbar aktiv, etwa im Kreis Mettmann.
Innenminister Herbert Reul (CDU) betonte am Rande des Symposiums, wie wichtig es sei, Experten zu dem komplexen Thema zusammenzubringen, um Lösungen zu erarbeiten: „Wer Clankriminalität bekämpfen will, muss sie in allen Facetten verstehen.“ Dazu gehöre auch, die Geschichte der Familien zu kennen, die meist aus Regionen der Türkei in den Libanon geflohen seien, dort schon am Rande der Gesellschaft gelebt hätten und schließlich in den 80ern nach Deutschland eingewandert seien, wo für ihre Integration nichts getan worden sei. „Nach 30 Jahren ist jetzt Zeit, dass man mit dem Handeln anfängt“, sagte Reul. Essens Polizeipräsident Frank Richter machte klar, dass trotz des enormen Aufwands - allein in der zweiten Jahreshälfte 2018 hatte es in NRW mehr als 100 Einsätze gegen Clankriminalität gegeben - eine rasche Lösung nicht in Sicht sei: „Wir befinden uns in einem Fußballspiel in den ersten Minuten der ersten Halbzeit.“