Vernehmungen im Untersuchungsausschuss Der Fall Lügde: Chronik der missachteten Hinweise

Düsseldorf · Im Sommer 2016 war für eine Psychologin das erste Mal die Alarmstufe Rot erreicht. Doch der Missbrauch von Lügde kam erst Ende 2018 ans Tageslicht.

Lebensumstände, die dem Heilpädagogischen Kindergarten der Pflegetochter von Beginn an seltsam vorkamen: der Campingplatz Eichwald in Lügde.

Foto: dpa/Friso Gentsch

Schritt für Schritt nähert sich der Parlamentarische Untersuchungsausschuss zum Kindesmissbrauch in Lügde dem Ungeheuerlichsten neben der monströsen Tat an sich: Das ist die mehrfache Missachtung warnender Hinweise, die für die Pflegetochter des verurteilten Haupttäters Andreas V. und viele andere Kinder eine jahrelange Verlängerung ihres Leids zur Folge hatte.

Für die Psychologin, die stundenweise das Team des Heilpädagogischen Kindergartens in Aerzen (Landkreis Hameln-Pyrmont) unterstützte, war im Sommer 2016  die „Alarmstufe Rot“ erreicht, wie sie am Montag vor den Ausschussmitgliedern im Düsseldorfer Landtag aussagte. Damals war der Kita bekannt geworden, dass die spätere Pflegetochter, die seit April 2014 die Einrichtung besuchte, dauerhaft zu Andreas V. auf den Campingplatz im Lügder Ortsteil Elbrinxen (Kreis Lippe) ziehen sollte.

Im Oktober 2015 erste Meldung auf Kindswohlgefährdung

Schon im Jahr zuvor hatten sie und der Gruppenleiter sich um das Mädchen gesorgt. Damals war es aber noch um das verwahrloste Umfeld gegangen, in dem das Mädchen zunächst bei seiner Mutter aufwuchs. Die Frau war als 16-Jährige schwanger geworden, war mit der Tochter überfordert, brachte sie nur sehr unregelmäßig in den Kindergarten „und war nicht ansprechbar auf Hinweise“, wie die Psychologin sagte. Im Oktober 2015 machte die Einrichtung beim Jugendamt eine Meldung auf Kindswohlgefährdung.

Zwar wurde diese Meldung in der Akte des Jugendamts Hameln-Pyrmont vermerkt, aber der Hinweis „zu Recht“ wurde Ende 2016 wieder gestrichen. Im Verlaufe des Jahres sei der Name von Andreas V. immer häufiger im Kindergarten aufgetaucht, erzählten Psychologin und Gruppenleiter übereinstimmend. Und das, obwohl er in keiner verwandtschaftlichen Beziehung zu dem Kind stand.

Der Einrichtung kam das seltsam vor: Warum kümmerte sich der alleinstehende Andreas V. um ein schwieriges Kind, warum lebte er auf einem Campingplatz, warum verzichtete er zunächst auf den Status als Pflegeperson und damit auch auf Geld? Als es Mitte 2016 hieß, das Mädchen ziehe dauerhaft zu ihm auf den Campingplatz, drängte die Psychologin auf ein Gespräch mit dem Jugendamt. Ihr Bauchgefühl „und jahrzehntelange Erfahrung“ sagten ihr: „Das kann man nicht so stehen lassen.“ Denn Schutzfaktoren wie eine intakte Beziehung zur Mutter oder Großmutter hätten bei dem Mädchen „so gut wie gar nicht“ bestanden, dafür seien die Risikofaktoren enorm gewesen. Auch gab es erste Gerüchte über sexuelle Anspielungen von Andreas V.

Im September 2016 sprachen die Psychologin und der Gruppenleiter mit dem Jugendamt. Dort wurde die Psychologin damit konfrontiert, Andreas V. als Pädophilen verdächtigt zu haben. Und die Jugendamtsmitarbeiter präsentierten ein Schreiben der Mutter, in dem sie das Aufenthaltsrecht für ihre Tochter auf Andreas V. übertrug und eine spätere Adoption in Aussicht stellte. „Wir haben gesagt, dass sie dort nicht sinnvoll aufgehoben ist“, sagte die Psychologin aus. Sie habe sich aber in dem Gespräch nicht ernst genommen gefühlt, auch wenn sie einräumt: „Einen wirklichen Beweis hatte ich nie.“ Und den Zeugen, der von Andreas V.s sexuellen Anspielungen berichtet hatte, stufte das Jugendamt als „nicht vertrauenswürdig“ ein.

Nachdem das Mädchen fest zu Andreas V. gezogen war, registrierte der Kindergarten zwar Verbesserungen: Es kam regelmäßig in die Einrichtung, war nach Aussage seiner Betreuer ausgeglichener und trat auch gepflegter auf. „Aber der emotionale Zustand des Kindes war immer noch alarmierend“, so der Gruppenleiter. Am 26. Oktober 2016 machte die Einrichtung eine zweite Meldung auf Kindswohlgefährdung. Auch sie verpuffte.

Im Jugendamt blieb man bei der Einschätzung, Andreas V. habe sich nichts zuschulden kommen lassen. Hausbesuche auf dem Campingplatz erbrachten aus Sicht der Behörde keine Beanstandungen. So dauerte es noch zwei Jahre, ehe die Pflegetochter, inzwischen Schulkind, in Obhut genommen und von jahrelanger sexualisierter Gewalt befreit wurde.