Kolumne Die Düsseldorfer Dandy-Literaten und der vergessene Künstlertreff

Düsseldorf · Von 1909 bis 1911 feierten Kreative wie Hermann Harry Schmitz, Hanns Heinz Ewers, Herbert Eulenberg und Ilna Wunderwald im Altstadtlokal Zum Rosenkränzchen die Literatur, die Kunst und das Leben. Eine Würdigung.

So sah der Treff der Literaten, das Gasthaus Rosenkränzchen, um 1920 aus.

Foto: Stadtarchiv Düsseldorf

„Gut, dass jetzt Winter ist, das passt“, sagt mein bester Freund P., als wir gegen Mittag die Ratinger Straße entlang spazieren. Vorbei am Einhorn, vorbei an der Uel, vorbei an der Kreuzherrenecke. Hier, auf Höhe der Liefergasse, endet die Kneipenzone, und in Richtung Rhein trägt die Altstadtstraße einen Namen, der gar nicht so vielen Düsseldorfern geläufig ist: Altestadt. Also: Ich hätte das jedenfalls nicht auf Anhieb gewusst, anders als mein bester Freund P. – aber der hat sich ja auch vorbereitet. Heute hat er es nicht – wie so oft – auf die popmusikalische Vergangenheit der Stadt abgesehen, sondern auf die literarische. „Eine Art Ratinger Hof der Schriftsteller?“, frage ich.

„Abwarten!“, sagt P.

Als die Lambertuskirche und der Fischerjungen-Brunnen in Sicht kommen, hält P. inne. Er zeigt auf das Eckhaus am Stiftsplatz. Kein Altbau, vielmehr ein eher modernes Gebäude mit viel Glas, in dem ein Brautmodengeschäft residiert. „Wie jetzt, warum Winter?“, frage ich, bevor er etwas sagen kann.

„Na, weil die sich da eben nur im Winter getroffen haben.“ Und dann erklärt er, worum es geht: Bis zum Abriss 1933 stand an der Altstadt-Adresse Altestadt Nr. 1 – logisch – eines der ältesten Häuser der Stadt, mit einer besonderen, heute weitgehend vergessenen Geschichte. So residierten im zweiten Stock Mitte des 19. Jahrhunderts die Brüder Andreas und Oswald Achenbach, die zu den bedeutenden deutschen Landschaftsmalern gehörten und scherzhaft das „A und O der Landschaft“ genannt wurden. Das ist allerdings nur die Vorgeschichte, denn diejenigen, um die es meinem besten Freund P. eigentlich geht, waren zu dieser Zeit noch gar nicht geboren: „Später gab es in dem Haus ein Lokal, das nach der Gründung des Malkastens zum Künstlertreff wurde“, erzählt P. Und dann zeigt er mir auf dem iPhone ein historisches Foto: ein imposantes Eckgebäude, mit Holzfensterläden an den Erdgeschossfenstern – und mit der Aufschrift: „Wein- u. Bierhaus Rosenkränzchen“. Von 1909 bis 1911 trafen sich hier in einem Hinterzimmer die „Rosenkränzer“, und zwar immer samstagabends.

So sieht die Stelle, an der das Rosenkränzchen in der Düsseldorfer Altstadt stand, heute aus.

Foto: Sebastian Brück

Die „Rosenkränzer“ – ich fasse das zusammen, weil ich hier unmöglich P.s kompletten „Vortrag“ wiedergeben kann – waren ein Kreis von Düsseldorfer Schriftstellern und Künstlern. Sie tranken Bier und Wein, sie diskutierten über Politik und Gesellschaft, sie waren anders als die anderen. Womöglich waren sie sogar im positiven Sinne verrückt, in jedem Fall lasen sie sich gegenseitig Texte vor und tauschten neue Ideen aus.

„Und warum nur im Winter?“, frage ich.

„Na, im Sommer und im Herbst und im Frühling konnten sie sich vermutlich nicht treffen, weil immer einer von ihnen zur Inspiration in Berlin oder sonstwo in der Welt auf Reisen war – oder Urlaub im FKK-Klub machte.“

„FKK-Klub?“

„Okay, das war jetzt übertrieben, aber ein bisschen stimmt es doch.“ P. grinst. „Erzähle ich dir später.“

Mein bester Freund P. hat eine genaue Vorstellung davon, wie der Text zum Thema aussehen soll: „Du stellst die wichtigsten Rosenkränzer vor, aber zu jedem nur ein paar Sätze, weil: Mit langen Texten sind die Leute ja heutzutage schnell überfordert.“ Auch die „richtige Reihenfolge“ hat P. schon geplant: „Der kontroverseste und international bekannteste kommt am Schluss!“

„Sag mal“, sage ich. „Woher weißt du das eigentlich alles?“

„Habe ich gelesen“, sagt P. „Im Netz und in Büchern.“ Und natürlich müsse ich zu meinem Kolumnentext auch einen Infokasten stellen, denn dass wir jetzt überhaupt etwas von diesem Literatenzirkel wüssten, hätten wir schließlich der „Vorarbeit“ anderer zu verdanken (siehe Infobox).

Hermann Harry Schmitz.

Foto: Theatermuseum

Der Recherchefleiß meines sonst gar nicht so literaturinteressierten Freundes lässt mir keine Wahl. Beginnen wir also mit Hermann Harry Schmitz, dem in Düsseldorf präsentesten Mitglied der Runde. Nicht nur eine Straße, sogar eine Abendrealschule ist nach den Autor grotesker Erzählungen benannt – das Hermann-Harry-Schmitz-Weiterbildungskolleg, das sich auf seiner Webseite ausdrücklich auf den „Satiriker“ und „Chaosberichterstatter“ beruft. Mein bester Freund P. ist davon so begeistert, dass er vor Ort am liebsten seinen Realschulabschluss nachmachen würde, „nur so zum Spaß“. Aber dann fällt ihm ein, dass er ja schon das Abitur geschafft hat – wenn auch „nur mit 3,4“. Gar nicht begeistert ist P. davon, dass das Grab des Herrmann Harry Schmitz auf dem Nordfriedhof eingeebnet worden ist: „Wie kann so etwas passieren?!“ Andererseits wundere ihn gar nichts in einer Stadt, die sich erst 1988 – nach ewigen Diskussionen – entschloss, die Universität nach einem ihrer berühmtesten Söhne zu benennen. Bei der Gelegenheit, so P., solle ich möglichst erwähnen, dass sich Hermann Harry Schmitz von Heinrich Harry Heine zu einem zusätzlichen „Künstlervornamen“ inspirieren ließ.

Herbert Eulenberg.

Foto: Stadtarchiv Düsseldorf

Nächster in P.s Reihe ist Herbert Eulenberg, der gemeinsam mit seiner Frau Hedda – einer Literaturübersetzerin – an den Treffen im Weinlokal-Hinterzimmer teilnahm: Ein zum Dramaturg berufener Jurist, der durch Louise Dumont 1904 aus Berlin an das neu geschaffene Düsseldorfer Schauspielhaus kam. Eulenberg gehörte zu den meistgespielten deutschen Bühnendichtern. Er erhielt positive Kritiken von Größen wie Robert Musil oder Alfred Kerr, und in seinem „Haus Freiheit“ in Kaiserswerth gingen in den 1920er Jahren Kultur-Promis wie Richard Strauss, Thomas Mann oder Heinz Rühmann ein und aus.

Wir stehen nun schon mehr als zwanzig Minuten vor dem Nachfolge-Gebäude des ehemaligen Künstlerlokals – und beginnen zu frieren. „Lass uns zum Rhein gehen“, schlage ich vor, „das haben die damals sicher auch gemacht, vor oder nach ihren Treffen.“

Ilna Ewers-Wunderwald und Hanns Heinz Ewers (1910).

Foto: Heinrich-Heine-Institut, Rheinisches Literaturarchiv, Nachlass Hanns Heinz Ewers.

Auf dem Weg vom Stiftsplatz Richtung Promenade bringt P. schließlich die beiden aus der Rosenkränzer-Runde ins Spiel, die er am spannendsten findet: den Schriftsteller Hanns Heinz Ewers und seine Frau Ilna Wunderwald, die sich im Künstlerverein Malkasten kennenlernten. Sie: Eine gefeierte Illustratorin, die auch die Buchcover ihres Mannes entwarf, außerdem ausgefallene Mode designte und schon weit vor den Goldenen Zwanzigern Hosenanzüge trug, dazu meist eine Zigarette in der Hand. Eine Ausnahmeerscheinung, um die es lange still war – bis das Berliner Bröhan-Museum sie im Frühjahr 2019 mit einer Ausstellung ehrte. Mein Wunderwald-faszinierter Freund P., der seine nächste Tochter unbedingt Ilna nennen möchte, zitiert dazu eine Überschrift aus dem Tagesspiegel, die es auf den Punkt bringe: „Eine Jugendstil-Künstlerin und ihre Hippieträume im Kaiserreich“.

Auch zu Hanns Heinz Ewers, dem dandyhaften Bürgerschreck und von Edgar Allan Poe beeinflussten Autor phantastischer Geschichten, zitiert mein bester Freund eine plakative Überschrift, diesmal stammt sie vom Deutschlandfunk: „Stephen King des wilheminischen Kaisereichs“. Mehr müsse man eigentlich gar nicht erwähnen, sagt P., während wir die vorbeituckernden Frachtschiffe beobachten. Vielleicht noch, dass Ewers bekanntestes Werk „Alraune“ 1911 – also noch zu seiner Rosenkränzer-Zeit – erschien, in mehr als 20 Sprachen übersetzt und zu Lebzeiten des Autors eine halbe Million mal verkauft sowie mehrmals verfilmt wurde – unter anderem 1952 mit Hildegard Knef in der Hauptrolle. Ebenso, dass Ewers auch Drehbücher schrieb und mit „Der Student von Prag“ (1913) als Schöpfer des weltweit ersten Autorenfilms gehandelt wird. Und am besten solle ich in der Kolumne auch noch die enthusiastische „Alraune“-Renzension eines britischen Buch-YouTubers einbinden („The highlight of german gothic literature“).

Ich muss diese Infoflut erstmal verarbeiten – und sitze in Gedanken bereits am Schreibtisch: Wie soll ich bei so einem Thema bloß den passenden Schlusssatz finden? Die vorbeifahrenden Schiffe heißen Birgit, Luisa und Estelle. Keines heißt Ilna oder Herbert oder Hermann – und schon gar keines Hanns Heinz. Könnte man natürlich erfinden, aber das würde einem ja keiner glauben. Doch dann bringt mich mein bester Freund P., dessen Einfluss auf TV-Serien-Produzenten ungefähr so groß ist wie meiner auf die Namen vorbeigleitender Rheinschiffe, auf Kurs: Das Leben von Hanns Heinz Ewers und Ilna Wunderwald müsse man unbedingt verfilmen. Da sei wirklich alles dabei, das könne sich keiner ausdenken: Die zahlreichen Reisen des Paares in den 1910er Jahren, unter anderen in die Karibik, nach Japan und China, nach Mittel- und Südamerika. Ein aus Kolumbien importierter Papagei namens Phylax. Der Aufenthalt in einer Aussteiger-Kolonie auf der Insel Capri, Nudismus (daher also der „FKK-Klub“-Scherz) sowie eine Bekanntschaft mit Oscar Wilde inklusive. Hanns Heinz Ewers Kampf für Homosexuellenrechte und ein Heinrich-Heine-Denkmal in Düsseldorf und gegen Antisemitismus. Die Trennung von Hanns und Illna, weil sie eine Affäre mit einem anderen Mitglied der Rosenkränzer hatte, dem Düsseldorfer Komponisten Gustav Krumbiegel. Ewers Drogenkonsum, Ewers Ameisenforschung (er schrieb sogar ein Buch darüber!), Ewers Flirt mit dem Nationalsozialismus und sein misslungener Horst-Wessel-Roman. Die zweite Ehe mit einer US-Amerikanerin. Die Verbrennung von Ewers Büchern durch die Nazis, das Schreibverbot, die Beziehung mit einer „halbjüdischen“ Architektin. Wie Ewers für jüdische Freunde und Bekannte Pässe und Visa besorgte, um ihnen die Flucht zu ermöglichen. Und die im Berliner Zoo spielenden Satiren auf die Rassegesetze der Nazis. Schließlich der einsame Tod in der Berliner Wohnung, 1943.

„Ich rufe morgen mal bei Netflix an und schlage denen das vor“, sagt mein bester Freund P. und setzt sein Ich-habe-den-Durchblick-Gesicht auf. „Das reicht für zwei Staffeln, mindestens.“