Dokumentarfilm zur Aufarbeitung von NS-Verbrechen Wie eine Doku Antworten versucht
Düsseldorf · Die wohl letzten Gerichtsverfahren wegen NS-Verbrechen finden jetzt statt, Jahrzehnte nach Kriegsende. Der Dokumentarfilm „Fritz Bauers Erbe“ geht der Frage nach, warum so viel Zeit vergehen musste. Dabei spielt der Düsseldorfer Anwalt Stefan Lode eine gewichtige Rolle.
Am ersten Verhandlungstag war sie geflohen. Die mittlerweile 97 Jahre alte Irmgard F. hatte ihr Heim verlassen und war mit einem Taxi zur U-Bahn-Station gefahren. Die Polizei griff die Frau später auf und brachte sie ins Landgericht in Itzehoe, wo sich die ehemalige Sekretärin des Konzentrationslagers Stutthof wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 10 000 Fällen verantworten musste. Nach der Flucht am ersten Verhandlungstag im September 2021 schwieg sie – bis zum Ende des Prozesses vor einem Monat. Das Schlusswort gehörte der Angeklagten und sie sprach tatsächlich: „Es tut mir leid, was alles geschehen ist. Ich bereue, dass ich zu der Zeit gerade in Stutthof war. Mehr kann ich nicht sagen.“
Sie habe gesprochen, aber nichts gesagt, sagt Stefan Lode, der jeden Prozesstag in Itzehoe miterlebt hat. Der Düsseldorfer Anwalt hat in den vergangenen Jahren Dutzende Überlebende in Verfahren gegen NS-Verbrechen vertreten, so auch bei dem jüngsten Stutthof-Prozess. Als Vertreter der Nebenklage habe er noch einen Appell an sie gerichtet, damit sie spricht, als Zeitzeugin. „Doch Schweigen ist oft die beste Verteidigung“, sagt Lode. Und ihre Schlussworte waren eben keine Entschuldigung für ihre Taten, sondern ein Bedauern ihrer Anwesenheit.
Warum heute, Jahrzehnte nach Kriegsende, KZ-Sekretärinnen und SS-Wachmänner als Greise vor dem Jugendgericht stehen, warum es so lange gedauert hat, bis die juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen auch bei den Mittätern angekommen ist, diesen Fragen geht der Dokumentarfilm „Fritz Bauers Erben“ nach. Auf der Suche nach einer Antwort spielt Stefan Lode eine gewichtige Rolle. Man sieht ihn im Gerichtssaal im Prozess gegen den ehemaligen SS-Mann Bruno Dey, auf dem Flug nach Tel Aviv zur Überlebenden Roza Bloch und wie er auf ihrem Sofa Platz nimmt, um sie davon zu überzeugen, nach Deutschland zu kommen und auszusagen. Man sieht ihn als Erben des Generalstaatsanwalts Fritz Bauer, selbst jüdischer Abstammung und eine schillernde Figur in der Aufarbeitung der NS-Verbrechen. Er war derjenige, der den Grundstein für einen Paradigmenwechsel legte, der erst heute Anwendung findet.
Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte in Deutschland das Narrativ von Hitler und seinem engsten Kreis, den Hauptverbrechern, denen alle folgten. In den Nürnberger Prozessen wurden die Hauptkriegsverbrecher verurteilt, es folgten zwölf Prozesse, unter anderem gegen Ärzte, Juristen, Industrielle. „Doch dann passierte lange nicht viel“, sagt Lode. Die großen Auschwitz-Prozesse wurden erst in den 60er-Jahren geführt, initiiert durch Fritz Bauer.
Er war der Erste, der die Art der Rechtsprechung infrage stellte. Es galt der sogenannte Einzeltatnachweis. Die Staatsanwaltschaft musste also nachweisen, dass ein Angeklagter zu einem bestimmten Zeitpunkt, an eben diesem Ort eine spezifische Tat begangen hat – eine Auffassung, die dem systematischen Massenmord in den Konzentrationslagern nicht gerecht wird.
Fritz Bauer vertrat erstmals die „Rädchen-Theorie“. Er sah alle Beteiligten als Rädchen der Mordmaschinerie, ob sie nun an der Rampe die Menschen selektiert, auf einem Turm Wache gestanden oder die Buchhaltung erledigt hatten. „Hätte man hier und dort Sand in die Maschinerie gestreut, hätte sie nicht so reibungslos funktioniert“, sagt Lode. Doch obwohl es in den Auschwitz-Prozessen sechs Verurteilungen zu lebenslangem Zuchthaus gab, verneinte die Revisionsinstanz Bauers Ansicht. Der individuelle Schuldbeweis galt weiter, und viele Mitläufer wurden nie angeklagt.
Erst 2011 mit dem Urteil gegen John Demjanjuk, einen ehemaligen Wachmann in Sobibor, kippte die Rechtsprechung. Nun gelten auch die als schuldig, die Hilfe leisteten zum Mord, den andere begingen. Ohne Einzeltatnachweis. Wenn ein SS-Mann vom Wachturm aus die Gaskammern sah und wusste, dass darin Menschen starben, dann gilt das heute als Beihilfe zum Mord. Den Wandel in der deutschen Rechtsprechung zeigt der Dokumentarfilm anhand zweier NS-Prozesse zum KZ Stutthof. Er misst dabei auch einer neuen Generation von Juristinnen und Juristen eine große Bedeutung bei. Vor allem aber den KZ-Überlebenden, die nach Jahrzehnten nach Deutschland reisen, um vor Gericht auszusagen.
Für sie, sagt Stefan Lode, gehe es weniger um die Strafe, vielmehr um das Urteil. Darum, dass ein Gericht die Schuld der Angeklagten feststellt, die sie auf sich geladen haben. Und sie wollen, dass über die Geschichte gesprochen wird. Damit schließe sich für sie ein Kreis. Das sei schwieriger, wenn eine Angeklagte wie Irmgard F. schweigt, sagt Lode.
Weil sie gut ein Jahr nicht aussagte, musste das Gericht auf anderen Wegen versuchen, Antworten zu finden. Darum sind die Beteiligten zum KZ Stutthof in Polen gereist – zum ersten Mal in der Geschichte der deutschen Justiz. Sie haben sich angeschaut, wie das Lager aufgebaut war und was Irmgard F. von ihrem Arbeitsplatz sehen konnte. Das Ergebnis: Aus dem Fenster des Geschäftszimmers in der Kommandantur konnte sie auf das sogenannte „Neue Lager“ blicken, zu dem auch das „Judenlager“ gehörte, in dem die schlimmsten Haftbedingungen herrschten. Direkt neben der Kommandantur kamen neue Gefangene in Massentransporten an und wurden selektiert, aus einem Archiv waren die Gaskammer und das Krematorium zu sehen. „Ich habe nichts gesehen“ – diesen Satz konnte Stefan Lode auch in den anderen Verhandlungen, die er begleitet hat, nie glauben.
Die Jugendstrafkammer hat Irmgard F. schließlich in 10 505 Fällen der Beihilfe zum Mord und in fünf Fällen der Beihilfe zum versuchten Mord schuldig gesprochen. Sie bekam zwei Jahre Haft auf Bewährung. Dies könnte das letzte Urteil wegen NS-Verbrechen gewesen sein. Viele Angeklagte starben, noch bevor ein Urteil gefällt werden konnte, oder sind nicht verhandlungsfähig. Einen Prozess könnte es noch geben, sagt Lode, in Franken. Es sei ein Rennen gegen die Zeit.