Porträt der Holocaust-Überlebenden Edith Devries Botschafterin für Güte und Menschlichkeit
Düsseldorf · Als Kind wurde Edith Devries mit ihren Eltern über Düsseldorf nach Theresienstadt deportiert. Sie überlebte den Holocaust und machte es sich zur Lebensaufgabe, darüber zu sprechen. Porträt einer Unbeugsamen.
Ihren Stern bewahrt Edith Devries in einer Schublade auf, gleich neben der Urkunde mit dem Bundesverdienstkreuz und einigen alten Fotos. Sie holt ihn nicht oft hervor, nur für Vorträge hat sie ihn sich manchmal angeheftet. Zum Erinnern braucht sie das gelbe Stück Stoff nicht, die Bilder, Ereignisse und Namen kommen von ganz alleine, sagt sie und lässt den Blick aus ihrem Zimmer im Nelly-Sachs-Haus über den Nordpark schweifen. Erinnerungen an ihre Heimat Weeze, daran, wie die Familie aus ihrer Wohnung geworfen wurde, weil sie Juden waren, an die Deportation vom Alten Schlachthof in Richtung Theresienstadt und vom Konzentrationslager selbst. Lange konnte sie nicht darüber sprechen, kamen die Erinnerungen nur in ihren Träumen. Doch irgendwann überwand sie sich – und machte es sich zur Lebensaufgabe, gegen das Vergessen und für mehr Menschlichkeit einzutreten.
Edith Devries wurde 1935 in Weeze geboren, sie war Einzelkind, ein spätes Wunschkind der Eltern, die damals beide schon über 40 waren. Ihre Kindheit beschreibt sie in ihren Memoiren, die sie mit Hilfe ihrer Tochter Ruth verfasst hat, als nicht ganz einfach. Die Familie wohnte zur Miete, irgendwann musste sie umziehen, weil der Vermieter sie als Juden nicht mehr beherbergen wollte. Dabei war der Vater im Ort anerkannt, hatte dem Deutschen Kaiserreich im Ersten Weltkrieg als Garde-Ulan gedient. Deutsch bis auf die Knochen sei er, das habe er immer wieder gesagt. „Und: Die Juden sind durchs Rote Meer gekommen, die kommen auch durch diese braune Scheiße“, sagt Edith Devries und schüttelt lachend den Kopf.
Um den Hals trägt sie eine Kette mit einer kleinen Tora, die Nägel sind sorgfältig lackiert. Sie schaut ihrem Gegenüber direkt in die Augen, wenn sie spricht. Ihre Geschichte hat sie tausendfach erzählt, vor Schulklassen, an Erinnerungsorten. Weniger überwältigend wird sie dadurch nicht. Sie von ihr persönlich hören zu können ist ein Geschenk, das demütig macht. Vor den Schrecken, die sie erlebt hat, aber auch vor ihrer Güte und Menschlichkeit. Die 86-Jährige wirkt deutlich größer als sie ist, wenn sie spricht.
Ihre Kindheit, so sagt sie es, endete mit der Deportation im Juli 1942. Lange hatten die Eltern nicht daran geglaubt, dass es auch sie treffen könnte, schreibt sie in ihrem Buch, zu sehr waren sie in Weeze Teil der Dorfgemeinschaft. Doch entziehen konnten sie sich nicht. Mit sechs Jahren kam Edith Devries ins Konzentrationslager Theresienstadt bei Prag. Auch große Teile ihrer Familie wurden Opfer des Holocaust: Von zehn Geschwistern der Mutter überlebte nur ein Bruder. Ihre Mutter, schreibt sie, habe das nie verwinden können.
Bis sie zehn Jahre alt war, lebte sie in Theresienstadt. An die Zeit hat sie viele Erinnerungen. „Ich weiß jedes Detail, jeden Namen“, sagt sie auch knapp 80 Jahre später. Sie lebte mit ihrer Mutter und mehr als 30 anderen Menschen in einem Zimmer. Sie war das einzige Kind dort; dass sie nicht von der Mutter getrennt wurde, nennt sie ihr großes Glück. „Meine Mutter hat mich versteckt und mit der jüdischen Hausmutter gesprochen.“ Das Leben im Konzentrationslager war von Hunger, Arbeit und Tod geprägt. Unter den Häftlingen grassierten Krankheiten wie Gelbsucht und Typhus.
„Überall winkte der Tod in Theresienstadt“, schreibt Edith Devries in ihrem Buch. Sie habe viele Menschen sterben sehen, erzählt sie. Die Toten hätten dann oft noch einige Tage im Zimmer gelegen, bevor sie abgeholt wurden. Die Mutter arbeitete im Hausdienst, putzte Toiletten, im Winter habe sie oft geweint vor Kälte. Der Vater lebte in einem anderen Haus und kümmerte sich dort viel um seine Mithäftlinge. Am 8. Mai 1945 wurde Theresienstadt befreit – und für Edith Devries und ihre Eltern begann ein neues Leben.
Die Familie zog zunächst zurück nach Weeze. Eigentlich habe sie nach Israel gehen wollen, sagt sie, aber wegen ihrer Eltern sei sie doch geblieben. Die Mutter erholte sich nie von den Schrecken des Holocaust und weinte viel, der Vater hingegen verzieh allen, sagt sie. Sie selbst wurde Erzieherin, arbeitete unter anderem in jüdischen Kindergärten in Köln, München und Düsseldorf. Sie heiratete, bekam 1961 das erste Kind, drei weitere folgten. Eigentlich wollte sie zehn Kinder haben, sagt sie, „nach dem Holocaust hatten wir Juden ja Nachholbedarf.“ Aber sie ist zufrieden, sagt sie und lacht. Zu ihren Kindern hat sie ein enges Verhältnis, viele Fotos von ihnen und von den Enkelkindern hat sie in ihrem Zimmer aufgestellt. Jeden Tag betet sie und gibt ihnen gute Wünsche mit. Ihr Glaube ist ihr wichtig, „aber so richtig streng bin ich nicht.“
Gezweifelt hat sie an ihrem Gott nie, auch im Konzentrationslager nicht. Der Glaube half ihr auch dabei, das Erlebte zu verarbeiten – und darüber sprechen zu können. Vor Schülerinnen und Schülern, Kindergartengruppen, in Unis und bei Gedenkveranstaltungen: Edith Devries erzählte, was die Nationalsozialisten ihrer Familie und so vielen anderen angetan haben. Für ihre Verdienste um die Erinnerungskultur und Völkerverständigung bekam sie in diesem Jahr das Bundesverdienstkreuz.
Ihre Freude am Leben und an den Menschen hat sie sich bewahrt, trotz allem. Diese Geisteshaltung spiegelt sich auch im Titel ihrer Memoiren wider: „Nicht mit zu hassen, mit zu lieben bin ich da“. „Ich habe verziehen“, sagt sie, „und bin dankbar, dass ich überlebt habe und viel Gutes tun konnte.“