Verein Lebenshunger Essstörung: Ein Problem, das die Gesellschaft nicht sieht

Der Verein Lebenshunger bietet Betroffenen und neuerdings auch deren Eltern Hilfe.

Dünn zu sein — auch allzu dünn — ist in unserer Gesellschaft kein Makel.

Foto: Jens Kalaene

Düsseldorf. Als bei einem Elternabend zum Thema Essstörungen mal wieder die Hälfte der Eltern fehlte, wusste Erny Hildebrand, dass es Zeit ist zu handeln. Rund 400 000 Menschen, in NRW leiden an Essstörungen, die meisten sind weiblich. Manche sterben an ihrer Krankheit, weil sie aufhören zu essen, nicht mehr trinken. Die Eltern stehen oft hilflos vor dem Leid ihres Kindes und sind selbst am Ende ihrer Kräfte. Deswegen geht der Verein Werkstatt Lebenshunger, der bislang vor allem den Betroffenen zur Seite stand, dem Erny Hildebrand (Psychotherapie) angehört, jetzt mit einem neuen Elternprogramm an den Start.

Frau Hildebrand, was gibt es an Essstörungen eigentlich nach wie vor zu tabuisieren?

Erny Hildebrand: Es ist gesellschaftlich anscheinend schwierig zu akzeptieren, dass Menschen still und heimlich verschwinden, weil sie in unserer Welt nicht zurechtkommen. Eltern plagen häufig Schuld- oder Schamgefühle.

Still und heimlich? Wie ist das gemeint?

Hildebrand: Wer Alkohol oder andere Drogen konsumiert, nimmt in Kauf, dass er auffällt. Bei Essstörungen ist das anders. Mädchen und Jungen, die eine Essstörung entwickeln, bleiben oft leistungsstark. Sie erleben keinen schulischen Einbruch. Im Gegenteil. Ihre Noten sind gut bis sehr gut. Sie fallen weder durch lautstarke Proteste noch durch ungebührliches Benehmen auf, weshalb man auch von der „Rebellion der Braven“ spricht. Probleme machen sie mit sich selber aus. Sie ziehen sich aus der Welt zurück und kaum jemand merkt es. Außerdem: Dünn zu sein, ist kein Makel in unserer Gesellschaft. Auch allzu dünn. Das wird leider gerne akzeptiert.

Also sind doch die Model-Casting-Shows schuld?

Hildebrand: Nein, uns ärgert es immer, wenn dieser Zusammenhang hergestellt wird. Tausende Mädchen schauen „Germanys Next Topmodel“ und werden nicht krank. Ich denke, hinter jeder Essstörung steht ein tiefer emotionaler Hunger. Es geht um Ängste, um Perfektion, um Einsamkeit, um Druck. Das sind die Themen der kranken, aber auch der gesunden Jugendlichen. Nur haben diese andere Ressourcen, damit umzugehen.

Drogen- und Alkoholabhängige können ohne den Suchtstoff leben. Essgestörte Menschen nicht. Sie sind also auch nach zunächst erfolgreichen Therapien ständig der Gefahr ausgesetzt, in Krisen wieder krank zu werden. Ist Heilung also überhaupt möglich?

Hildebrand: Ja, durchaus. Wenn die Betroffenen gelernt haben, andere Wege aus der Krise zu finden, zum Beispiel darüber zu reden. Und genau dafür sind die Eltern so wichtig. Sie können ihre Kinder stärken, damit sie selbstsicherer und zufriedener mit ihrem Körper werden und sich von Problemen nicht umhauen lassen, sondern kreativ damit umgehen. Leider machen sich Eltern oft Vorwürfe.

Weil sie nicht helfen können?

Hildebrand: Weil sie glauben, nicht helfen zu können. Ob mit oder ohne essgestörtes Familienmitglied — auch Eltern haben Selbstzweifel: Bin ich eine gute Mutter, ein guter Vater? Wie wollen sie ihr Kind unterstützen, wenn sie selbst unglücklich sind?

Wo setzt Ihre Unterstützung an?

Hildebrand: Wir bieten den Eltern an, an einem Intensivseminar teilzunehmen, das über mehrere Samstage läuft. Sie lernen die Krankheit ihres Kindes genauer kennen und sollen die Möglichkeit bekommen, ihre eigenen Gefühle und Gedanken auszudrücken. Vielleicht ergibt sich daraus im Anschluss eine angeleitete oder eine Selbsthilfegruppe für die Eltern.