Stadt-Teilchen Die verrammelte Wunderwelt

Düsseldorf · Wenn sich unser Kolumnist zu gut fühlt, geht er auf die Friedrichstraße.

Der Stern-Verlag an der Friedrichstraße

Foto: Hans Hoff

Wenn ich mal wieder zu gute Laune habe, weil alles klappt, weil die Sonne mich aufheizt, weil die Menschen nett zu mir sind, kurzum, wenn das Leben läuft, wie das Leben eben laufen soll soll, dann beginne ich, meinen Übermut zu fürchten. Man kennt das ja. Wenn einem so viel Gutes wird beschert, dann ist das nicht nur, wie es früher in der Werbung hieß, einen Asbach Uralt wert, dann schwingt auch der Gedanke mit, dass eine Prise Nachdenklichkeit in der quirligen Suppe des Lebens ganz gut täte. Habe ich das alles verdient, fragt sich dann der besinnungsfreudige Mensch, der sich beim Geben der Antwort nie so ganz sicher ist. Ja, habe ich vielleicht verdient, dieses schöne Leben, aber vielleicht habe ich es sooo schön, wie es gerade ist, dann doch nicht verdient.

Woher das kommt? Keine Ahnung. Wie das wieder weggeht? Da habe ich eine Idee, eine Methode, die mich immer wieder Demut lehrt. Ich besuche dann die Friedrichstraße, eine einst prachtvolle Meile, die mir als junger Bilker oft Einfallstor in die große Stadt war. Wie oft bin ich dort samstags entlang geschlendert, habe mir aus dem dröhnenden Autoverkehr, aus den kreischenden und klingelnden Bahnen eine Großstadtsymphonie gefertigt, schaute hier und schaute da.

Die Friedrichstraße war meine Wunderwelt. Da gab es alles, was mein Herz begehrte. Zum Auftakt meines Ausflugs besuchte ich immer einen winzigen Trödelladen am Beginn der Friedrichstraße. Dort gab es in einer Ecke gebrauchte Platten, und so manches Mal habe ich dort kleine Schätze gehoben, die meine Sammlung bis heute veredeln. Und wenn ich nichts fand, dann war allein das Stöbern die Zeit wert, dieses fiebrige Gleiten der Finger über die staubigen Plattenstapel, dieses Umblättern von Langspielplatten, diese gespannte Erwartung, ob nicht hinter der nächsten LP vielleicht eine besondere Rarität lauert, diese eine Platte, die ich unbedingt noch besitzen wollte.

Einmal blieb mir dort fast das Herz stehen, denn als ich so routiniert Platte um Platte durchsah, entdeckte ich plötzlich etwas, von dem ich sofort wusste, dass es meine Taschengeldkassenbilanz möglicherweise gehörig aufhübschen würde. Es handelte sich um eine Rolling-Stones-Platte im Zehn-Zoll-Format, nicht ganz so groß wie eine Zehn-Zoll-LP, aber imposanter als eine Sieben-Zoll-Single. „Beat Beat Beat“ hieß die Platte, die allein schon wegen ihrer ungewöhnlichen Größe aus dem Rahmen des Gewöhnlichen fiel und zudem noch tiptop in Ordnung war. Das Cover wie neu, kein Kratzer auf dem Vinyl. Ich überlegte, was der Trödler mir dafür wohl abnehmen würde, und ich kalkulierte, dass ich immer noch einen ordentlichen Schnitt machen würde, wenn er mir 50 bis 70 Mark abverlangte.

Ich nahm also die Platte, ging mit zittrigen Händen zum Chef des Geschäfts und versuchte, besonders teilnahmslos zu wirken. „Da hast du aber was sehr Seltenes entdeckt“, sagte er, und ich hielt das natürlich für einen besonders cleveren Trick, den Preis gleich mal ordentlich in die Höhe zu treiben. Ich versuchte, lässig zu kontern. „Och, so selten ist die auch wieder nicht“, entgegnete ich und erwartete nun eine Preisansage, die durchaus den dreistelligen Bereich streifen könnte. Ich dachte: egal. Selbst, wenn sie 100 Mark kostet, dann eile ich nach Hause und hole die 100 Mark. Das ist die Platte auf jeden Fall wert.

Der Trödler drehte die Platte, sah sie noch einmal prüfend an, und dann kam er mit dem Preis rüber. „Für sechs Mark kannste die mitnehmen“, sagte er. Für eine Millisekunde dachte ich, dass es wohl sehr cool rüberkäme, wenn ich jetzt noch handeln würde und „vier Mark“ sagte. Aber dann kramte ich rasch in der Tasche, holte sechs Mark raus, und weg war ich. Am nächsten Tag bestellte ich einen Raritätensammler zu mir, und nach langwierigen Verhandlungen kam „Beat Beat Beat“ in  neue Hände – für 220 Mark.

Natürlich bot die Friedrichstraße nicht jeden Tag solche Sensationen, aber es gab doch immer wieder viel zu entdecken. Ich schaute, welche antiken Schwarzweißfotos vom alten Düsseldorf der Apotheker kurz vor dem Kirchplatz in sein Schaufenster gelegt hatte, und bei Strauss kleidete ich mich neu ein. Immer was los.

Der Höhepunkt eines normalen Friedrichstraßenspaziergangs war aber der Stern-Verlag. Ein Palast der Bücher, eine Institution und eine Inspiration auf mehreren Etagen. Ich war nie ein großer Leser von Büchern, aber immer wenn ich den Stern-Verlag betrat, beschlich mich der Eindruck, ich sollte besser einer sein.

Ich streifte durch das riesige Areal, das luxuriös Raum verschwendend bis zur Talstraße reichte, ich stöberte in Angebotsständern und schaute Menschen zu, die nach seltenen Fachbüchern fragten und diese im Untergeschoss tatsächlich bekamen.

Manchmal nahm ich mir auch ein Buch, hockte mich hin und begann zu lesen. Ich versank dann in eine Welt, aus der ich nur schwer wieder hervorzuholen war. Nie hat mich irgendwer gestört in meiner Lektüre, nie hat mich jemand aus dieser Welt gerissen.

Der Stern-Verlag war auch ein guter Ort, um Freunde zu treffen. Irgendwer Bekanntes kam einem dort immer entgegen. Dann plauschte man spontan ein Ründchen, und manchmal trank man auch gemeinsam einen Kaffee im integrierten Café, um danach weiterzustöbern oder halt seines Weges zu gehen. Im Prinzip fühlte sich der Stern-Verlag an wie ein riesiges begehbares Buch, eine verzauberte Welt.

Als Schüler musste man dort seine Schulbücher abholen. Ich erinnere mich, wie ich die Schmeil-Bände für Biologie und den braunen Diercke-Atlas für Erdkunde abholte und manchmal an den Seiten schnupperte, weil halt wenig so gut riecht wie frisch gedruckte Bücher. Außer vielleicht Martina aus der Parallelklasse.

Im Winter glänzten die Schaufenster des Stern-Verlags in meiner Erinnerung golden. Wahrscheinlich waren sie nie golden illuminiert, aber gerade an kalten Tagen war der Stern-Verlag ein wunderbarer Ort, um die durchgekühlten Knochen des Friedrichstraßenwanderers wieder mit Wärme und seinen Geist mit Ideen zu füllen. Lange reichte allein das Aussprechen des Namens, um meine Körpertemperatur in wohlige Bereiche zu verschieben. Ach du, mein Stern-Verlag!

Nach dieser Schwärmerei kann man sich leicht vorstellen, welches Gefühl mich beschleicht, wenn ich dieser Tage vor den verlassenen und verbretterten Fenstern des Stern-Verlags ankomme. Nichts leuchtet mehr golden, nichts lädt mehr ein zum Stöbern, niemanden kann man hier mehr treffen. Diese großartige Welt, die einst war, sie ist nicht mehr.

Es hieß, ein Hotel solle hier hinkommen, aber passiert ist lange nichts. Wie oft habe ich vor dem verrammelten Laden gestanden und mir gewünscht, dass nun aber bitteschön bald die Bagger kommen sollen. Wenn hier nichts mehr wäre, dann könnte ich leichter abschließen mit meiner Trauer. So muss ich immer wieder auf das schauen, was mal war und nicht mehr ist und niemals mehr sein wird.

Vielleicht ginge es auch der Friedrichstraße besser, wenn die Erinnerung an den Stern-Verlag bald verblassen würde. Vielleicht ist das, was da kommen könnte, gar nicht so schlecht. Aber es müsste halt mal kommen.

Was für den Stern-Verlag gilt, gilt für viele Häuser und Geschäfte auf der Friedrichstraße. Da ist viel zu viel verrammelte Vergangenheit, viel zu viel Verfall und viel zu wenig Zukunftshoffnung. Sollte nicht alles mal besser werden, wenn die Bahn nicht mehr durch die Friedrichstraße fährt? Nichts ist besser geworden.

Ich gehe da wirklich nur noch durch, wenn meine Laune sonst überzuschäumen droht. Das ist glücklicherweise nicht zu oft der Fall. Bis dahin besuche ich lieber Straßen, die noch leben, die pulsieren und nicht in einem Transitbereich zwischen Verfall und letzter Verfügung dahin darben.

Sonst fange ich demnächst noch an, meine Sprache zu ändern. Dann sage ich nicht mehr „Ich habe schlechte Laune“, dann schaue ich mein Gegenüber traurig an und sage mit hängenden Mundwinkeln „Ich habe Friedrichstraße“. Ich glaube, das will niemand.