Kolumne Wo sich die alten Lachse treffen
Düsseldorf · Unser Kolumnist Hans Hoff kehrt zurück an den Ort seiner Geburt.
Wenn die Lachse alt werden, dann kehren sie zurück an den Ort ihrer Geburt. Dort treffen sie sich, quatschen viel über frühere Zeiten, als alles noch viel früher war, und dann äußern sie ihr Unverständnis über die aktuellen Verhältnisse. Wie man das eben so anstellt als in die Jahre gekommenes Wesen ohne Zugang zu asozialen Medien.
Nun bin ich kein Lachs, aber als mich der Zufall kürzlich durch Heerdt führte, verspürte ich doch den unwiderstehlichen Drang, an den Ort meiner Geburt zurückzukehren, mal nachzuschauen, wie es denn dieser Tage so ist, dort, wo ich im August 1955 das Licht der rheinischen Welt erblickte. Im Dominikus-Krankenhaus.
Ich merkte sofort: Es ist anders. Was natürlich Quatsch ist, denn wie es wirklich war im Sommer 1955, weiß ich gar nicht, weil ich doch nur ein krächzendes Etwas im Arm meiner lieben Mutter war, der Stolz meines Vaters. Der war übrigens, wie meine Mutter mir später nicht nur einmal berichtete, ein ziemliches Schlitzohr, denn die Einigung mit meiner noch eine Weile im Krankenhaus verbleibenden Mutter, dass der Sohnemann auf den Namen Dieter zu hören habe, vergaß er auf dem Weg zum Standesamt kurzerhand. Und setzte dort selbst einfach Hans, den Namen seines Vaters, vorne dran, weshalb ich nun schon 65 Jahre mit einem selten bis nie gebrauchten Doppelnamen im Ausweis herumirre. Dieter wollte ich nie heißen, und wenn ich mir so anschaue, wer dieser Tage alles Dieter heißt, dann kann ich nur feststellen, dass meine Namensabneigung einem sehr sicheren Instinkt folgte.
In meiner frühen Erinnerung, die sich vor allem aus Erzählungen meiner Verwandten speist, war das alte Heerdter Krankenhaus ein imposanter Backsteinbau, der abgerissen wurde, als ich der Volljährigkeit zuneigte. Für mich ein Vorgang, der mich nicht wie erwartet mit Trauer erfüllte, sondern mit ein bisschen Stolz. Fortan erzählte ich jedem, der es nicht hören wollte, dass man das Krankenhaus abgerissen habe, weil nach meiner Geburt die Hoffnung, dass da noch einmal etwas Besseres entstehe, gen Null tendierte. Von der Tatsache, dass meine freche Schwester dort sieben Jahre später auch das Lebenslicht erblickt hatte, sah ich bei meiner immer epischer werdenden Heldensaga gnädig ab.
Inzwischen steht dort, wo ich einst meine allererste Meinung in die Welt trötete, ein schmuckloser Zweckbau, der innen seinem Zweck auf das Vorzüglichste dienlich sein mag, der nach außen aber eher abstoßend wirkt. Es ist ein Gebäudekomplex, der in seiner architektonischen Einfallslosigkeit sehr dazu einlädt, ihm den Rücken zu kehren und sich am atemberaubenden Rhein-Panorama zu ergötzen.
Das heilt viel von Zweckbauten ausgelöstes Augenweh, denn man sieht jenseits des glitzernden Stroms einen Stromerzeuger erster Güte, das Kraftwerk Lausward. Lustigerweise las ich kürzlich erst, dass just in meinem Geburtsjahr auch mit dem Bau des ersten Kraftwerkblocks begonnen wurde. Der trug den Namen Anton und bekam später Geschwister, die auf die Namen Berta, Cäsar, Dora, Emil und Fortuna hörten. Leider hörte das mit dem Kraftwerkblockbau wohl irgendwann auf, weshalb es keine Blöcke mit den Buchstaben G und H vorne gibt, was ich schade finde, weil ich es schon sehr genossen hätte, wäre dort irgendwann ein Kraftwerksblock mit dem Namen Hans entstanden. Was hätte das für eine Beziehung ergeben, rechtsrheinisch käme die Energie vom Block Hans, und linksrheinisch erinnerte man sich an die Großtaten des dort geborenen Hans.
Es hat nicht sollen sein, weshalb mich der Besuch an meinem Geburtsort auch ein wenig melancholisch stimmte. Dort stehen neben dem Krankenhaus nun schick sein sollende Wohnklötzchen in Beige, die allein schon wegen der Rheinlage sicherlich nicht für Sozialfälle reserviert wurden. Hinter dem Krankenhaus und den Klötzchen reckt sich ein Hochhaus empor, das eindeutig die künftige Kulisse dominieren wird, das derzeit aber noch nicht das Versprechen abgibt, diesen Teil von Heerdt zu einem lebenswerteren Ort zu machen.
Käme ich heute noch einmal an diesem Ort zur Welt und sähe die baulichen Verirrungen, zöge ich mich wahrscheinlich rasch wieder in den Schoß meiner Mutter zurück. Nein, in solch einer Welt würde ich nicht groß werden wollen, da war mir die Beschaulichkeit von früher schon lieber.
Natürlich ist das alles großes Quatschgerede. Das Leben ist nun mal kein Ponyhof. Niemand sucht sich aus, wo er geboren wird, aber ich bin mir sicher, dass ich, käme ich hier nochmal zur Welt, niemals zurückkehren würde, um in leiser Melancholie über mein Werden und Wirken nachzudenken.
So aber fand ich mich wieder und dachte allerlei Quatsch, so wie es die Lachse halt auch tun, wenn sie heimkehren. Ich überlegte kurz, ob ich denn nun, da ich doch eindeutig mehr Vergangenheit als Zukunft habe und sich immer mehr Dinge ihrem Ende zuneigen, auch ein Quatsch-Lachs bin, der als Spätheimkehrer über die mangelhaften aktuellen Verhältnisse lamentiert.
Bevor ich mir die Antwort geben konnte, stieß ich auf eine Holzbank, die mich stutzen ließ. Es stehen mehrere Holzbänke dort am Rheinufer. Schicke Exemplare sind das, aus gutem Holz geschnitzt. Der eine Teil jeder Bank ist flach, der andere hat eine elegant geschwungene Lehne. An einer dieser Lehnen entdeckte ich nun etwas, das mich schmunzeln ließ und augenblicklich mit dem Ort versöhnte. Dort war nämlich ein Zettel festgebunden. Auf dem stand in wunderbarem Rheinblau „Ich bin eine ‚Quatschen‘-Bank“.
Das verwunderte mich sehr, weil ich mich unwillkürlich ertappt fühlte als Quatsch-Lachs, aber dann merkte ich, dass es bei der Bank um etwas anderes ging. Der Zettel sagte, dass derjenige, der sich hierhin hocke, signalisiere, dass er Lust habe, ein bisschen zu quatschen. Nicht nur „Tach“ und „Tschüss“, sondern richtig quatschen über dies und das. Menschen, die sich hier niederlassen, sind also im besten Sinne ansprechbar für jeden, der ihres Weges kommt.
Ich fand das eine tolle Idee und hockte mich sofort hin, bereit, mit jedem Dahergelaufenen eine Konversation zu beginnen, zu debattieren, notfalls auch zu streiten über die Frage, ob die Welt noch quatschende Lachse braucht. Leider scheiterte mein Versuch am mangelnden Passantenaufkommen an diesem Vormittag, vor allem aber an der Tatsache, dass die Sonne mein Lachshirn doch rasch an die Gargrenze brachte und ich daher flugs in den Schatten der nahen Bäume floh.
Also konnte ich niemanden erzählen von meiner Geburt hier und meiner Beziehung zu Anton gegenüber und wie das so ist, wenn man als Lachs heimkehrt, um den Lebenshorizont zu begutachten.
Aufgeschoben ist aber bekanntlich nicht aufgehoben, weshalb ich mich mit Sicherheit bald mal wieder an meinen Geburtsort am Heerdter Rheinufer begeben und mich dort auf die „Quatschen“-Bank hocken werde. Dann können alle kommen und mich voll quatschen, bis ich lachsrot anlaufe. Ich bin dann für jeden Quatsch zu haben. Wir haben eine Verabredung.