Krasse Teenager-Sachen aus dem Reclam-Heft auf der Bürgerbühne

„Frühlings Erwachen“ sorgte vor mehr als hundert Jahren für einen Skandal. Das Central zeigt, was Jugendliche heute daran noch schockt.

Foto: Sandra Then

„Es kann doch nicht wahr sein, dass in einem Stück aus dem 19. Jahrhundert mehr passiert als bei mir.“ Die Jugendlichen sind verzweifelt. Jakob hat zu seinem Geburtstag Ü13 eingeladen und wünscht sich voll krasse Sachen. „Drei Finger aufs Herz und einen in den Po“, lautet sein Schlachtruf.

Die Party-Gesellschaft ist hilflos überfordert. Saufen, Knutschen, Rauchen zeigen nicht den gewünschten Effekt. Und dann nervt Jonas mit seinen Hausaufgaben. Er muss bis morgen Frank Wedekinds „Frühlings Erwachen“ lesen, verstehen und interpretieren. Laut Siri geht’s ums Ficken. Aber diese Handy-Auskunft reicht nicht. Die 14 Jugendlichen teilen sich die Seiten aus dem gelben Reclam-Heft untereinander auf und tauchen ein in diese Welt von Wendla und Melchior, Ilse und Moritz. Sie nehmen deren Rollen ein, ziehen sich Kleider und Masken über. Nur kurz, als Versuch. Sie staunen über maßloses Begehren, über körperliche Exzesse und erschrecken über die Folgen. Selbstbefriedigung, Schwangerschaft, Selbstmord - voll krass diese Story.

Regisseurin Joanna Praml hat ihre zweite Bürgerbühnen-Inszenierung ähnlich angelegt wie ihre Erfolgsproduktion „Ein Sommernachtstraum“, mit der sie für Deutschlands wichtigsten Theaterpreis „Der Faust“ nominiert wurde. Sie lässt die Düsseldorfer Jugendlichen, die vor Energie und Spiellust zu platzen scheinen, im Central in ihren Alltagsrollen auftreten. Alle mit einem Handy in der Hand. Alle mit der Sorge, entweder die Eltern zu enttäuschen oder beim Erwachsenwerden nicht schnell genug zu sein.

Die Lektüre macht ihnen Mut, und die dazugehörige Mutprobe ist schnell gefunden: Geben doch gerade Eltern gerne damit an, als Jugendliche in ein Freibad eingebrochen zu sein. Das wollen die 16 schaffen, schwören sich gegenseitig, maßlos zu sein. „Wenn kein Unwetter droht und sicher Wasser im Becken ist“, startet Alana Lu ihre Liste mit Einschränkungen. Alle sind anrührend unsicher: „Kindergeburtstag war einfach. Klare Regeln, klarer Ablauf.“ Jetzt wird’s kompliziert. Und bleibt kompliziert. Denn nachdem die Teenager nass und berauscht vom Backstage-Abenteuer auf die Bühne zurückkommen, tauchen vier Mütter auf und feuern Fragen und Vorwürfe ab, als ginge es um die letzte Schlacht.

Bis die Teenager sich aus ihrer Deckung wagen und den Müttern mit einer Fragensalve spiegeln, wie diese ihnen das Leben schwer machen. „Wir sind maßlos“, geben sie vorn an der Rampe am Mikro zu. Maßlos im Sorgen, maßlos im Lieben. Die Frauen werden von den Jugendlichen in eine Kiste gesperrt. Netterweise mit einer Kiste Bier, die die Damen zu nutzen wissen. Bis zu deren Vollrausch sorgen die Jugendlichen für Ordnung, was ein bisschen schade ist beim unterhaltsam anarchistischen Durcheinander von zuvor.

Voll krass haben sie sich benommen und das voll krass genossen, das spürt man. Eine Stärke der Bürgerbühnen-Produktionen, Menschen mit ihren Lebens-Geschichten in den Mittelpunkt zu stellen. Näher ran geht kaum. Wenn auch Shakespeares Verwirrspiel der Liebenden für das Regiekonzept und die maßlose Energie der Spieler eine dankbarere Vorlage war als Wedekinds Kindertragödie.