Frau Gerbutaviciute, Kaunas ist Kulturhauptstadt, die Unabhängigkeit jung – wie viel der Aufbruchstimmung Litauens nehmen Sie mit ins neue berufliche Leben?
Künftige Leiterin des Tanzhaus NRW „Die Themen der Gegenwart sind mir wichtig“
Interview | Düsseldorf · Die zukünftige Intendantin des Tanzhauses NRW spricht über ihre erste Begegnung mit Ballett und zeitgenössischem Tanz, Freiheit, Heimat und die Kraft der Bewegung.
Ingrid Gerbutaviciute: Für den Tanzbereich war ich sowohl in Deutschland als auch in Litauen tätig. In Litauen bin ich geboren und aufgewachsen, seit 15 Jahren lebe ich in Deutschland. Die Konzepte, die ich mitbringe, sind also nicht rein litauisch, aber auch nicht rein deutsch.
Sie haben als Kind klassisches Ballett gelernt, Ihr Herz hängt jedoch am zeitgenössischen Tanz. Wie kommt das?
Gerbutaviciute: Wir sind mit der Familie an jedem Wochenende ins Nationaltheater für Oper und Ballett gegangen. Die Oper konnte ich als Kind nicht verstehen und fragte meine Mutter: Warum schreien die Menschen auf der Bühne so? Die Ballettvorstellungen habe ich hingegen sofort gemocht. Das wollte ich lernen und tat es. Vita Mozuraite hat mir die wunderschöne Welt des zeitgenössischen Tanzes eröffnet. Ich habe mich wie Alice im Wunderland gefühlt. Später wurde ich beim Lithuanian Dance Information Center angenommen, wo ich Projekte selbst initiiert und geleitet habe und viele Kontakte zur internationalen Tanzszene knüpfen konnte.
Einen Großteil Ihres Studiums haben Sie in Berlin verbracht.
Gerbutaviciute: Berlin war eine sehr wichtige Station in meinem Leben. Ich war dort als Stipendiatin erst einmal für ein halbes Jahr. 2005 habe ich in Litauen meinen Bachelor abgeschlossen und gedacht: Du musst nach Berlin zurückkehren, musst dort studieren und das unglaubliche Kulturangebot erleben. Die Multikulturalität dort ist bestechend. Bis 2016 war ich in Berlin.
Sie sind viel unterwegs, pendeln zwischen Deutschland und Litauen, reisen zu Festivals und Messen. Gibt es ein Zuhause?
Gerbutaviciute: Mein Zuhause ist da, wo ich mit meinem Mann lebe. Zuletzt war es Frankfurt, bald wird es Düsseldorf sein. Aber mein Zuhause ist auch noch da, wo meine Eltern leben, in Vilnius. Ich reise gern, brauche aber doch meine Ruhe. Ich mag es, zu wissen, dass ich zu Hause in einem geschützten Raum bin.
Was bedeutet Ihnen Heimat?
Gerbutaviciute: Litauen ist und bleibt Heimat. Das hängt mit der historischen Prägung zusammen; und es spielt eine persönliche Geschichte hinein. Als Litauen 1990 die Wiederherstellung seiner Unabhängigkeit ausrief, schickte Gorbatschow ein Jahr später die Armee in die baltischen Staaten. Ich ging damals in die zweite Klasse und kann mich gut an die Panzer erinnern. Die Sowjettruppen hatten das Parlament, die Radio- und Fernsehstationen besetzt. Die Menschen haben dagegen protestiert. Das lief absolut friedlich ab. Irgendwann haben die Soldaten dann begonnen, auf die Menschen zu schießen. Dabei ist mein Cousin ums Leben gekommen. Er war 17 Jahre alt. Wir Litauer sagen: Wir mussten uns unsere Freiheit hart erkämpfen. Diese Haltung hat mich sehr geprägt. Ich weiß, was Freiheit bedeutet, was offene Grenzen bedeuten und die Möglichkeit, im Ausland studieren zu dürfen.
Eine Besonderheit des Tanzhauses ist, dass es ein Bühnen- und ein Kursprogramm unter seinem Dach vereint. Beide Felder werden von Künstlern getragen. Wie gelingt eine Gleichbehandlung?
Gerbutaviciute: Das Tanzhaus NRW ist beides, Akademie und Bühne. Man darf jedoch den Kontext nicht außer Acht lassen. In der internationalen Tanzszene wird das Tanzhaus NRW hauptsächlich als Bühne wahrgenommen, in Düsseldorf und Umgebung hingegen vor allem als Akademie. Während meiner Wohnungssuche traf ich immer wieder Menschen, die mindestens eine Person kannten, die schon einen Kurs bei uns besucht hat.
Wie sieht Ihre Programmatik für das Haus aus?
Gerbutaviciute: Es ist noch etwas früh, über konkrete Formate zu sprechen. An dem Saisonprogramm arbeite ich. Meine Philosophie ist, immer zuerst den Austausch zu suchen. Sei es das Team, seien es die Dozierenden, die Kursteilnehmenden oder sei es die regionale Künstlerszene. Ich schaue mir die Bedürfnisse an: Sind mehr Urban-Art-Workshops gewünscht? Brauchen lokale Künstlerinnen und Künstler Coaching-Angebote? Wir entscheiden dann in der Teamleitung, was wir stemmen können und was vielleicht erst in drei Jahren machbar
ist.
Sie sind also für ein starkes Mitspracherecht aller?
Gerbutaviciute: Ich möchte ins Gespräch kommen, ja. An erster Stelle steht jedoch die Qualität der Angebote. Das ist für mich entscheidend, sowohl im Hinblick auf die Kurse als auch auf die Bühnenstücke. Ich möchte alle Bereiche gleichberechtigt behandeln und betreuen. Vielleicht käme es den Dozierenden entgegen, einen Beirat zu bilden, es sind ja immerhin 50 Lehrende.
Was möchten Sie inhaltlich vorantreiben?
Gerbutaviciute: Die Themen der Gegenwart sind mir wichtig. Dazu gehören die Umweltkrise, Nachhaltigkeit, Diversität, Integration, Inklusion. Das sind große Begriffe, die aber sehr wichtig sind. Ich möchte die Kooperationen mit den Schulen stärken, mit den Jugendzentren, aber auch mit Senioreneinrichtungen. Das liegt mir sehr am Herzen. Die älteren Menschen sind sehr oft einsam, und ich glaube, dass Tanz das künstlerische Mittel ist, um zu ihrem Wohlbefinden beizutragen.
Start für Neubau und Sanierung des Tanzhauses soll diesen Sommer sein. Bleibt es dabei?
Gerbutaviciute: Ich blicke optimistisch nach vorn. Details gibt es Mitte des Jahres. Aktuell befinden wir uns in der Planungsphase mit Architekt, Planern und Projektsteuerern, in enger Abstimmung mit der Landeshauptstadt Düsseldorf und dem Land NRW.
Der Standort des Neubaus ist also geblieben, das Capitol, das sich auch auf dem Gelände befindet, war, wie man hört, nicht begeistert.
Gerbutaviciute: Mit dem Capitol bestehen über den geplanten Standort keine Differenzen.