Schauspielhaus Joachim Król brilliert mit „Der erste Mensch“
Düsseldorf · Ein Abend ganz im Geiste von Albert Camus Kindheit in Algier, der den Geist des Romanfragments zauberhaft beschwört.
Es ist ein lauer Abend in Französisch-Nordafrika – genauer gesagt in einem ärmlichen Viertel von Algier. In einem kleinen Haus glimmt eine Öllampe. Sie steht auf einem mit einem Wachstuch bedeckten Tisch, auf dem sonst Linsen gelesen werden und vor ihr sitzt ein Junge und liest mit unstillbarer Gier in einem Buch, das er sich zuvor in der Bibliothek seiner Schule ausgeliehen hat. Vielleicht ist es kein besonders gutes Buch, vielleicht auch kein außerordentlich großer Autor, aber dieses Buch, das einen so eigenen wunderbaren Geruch verströmt, steckt voller Leben, voller Geschichten, die der kleine Mann verschlingt. Mehr zufällig hat er dieses Buch ausgesucht, an den Bücherregalen entlangschlendernd. Doch das ist zweitrangig, er darf lesen, kann lesen, kann neue Welten für sich entdecken. Das Zimmer ist dunkel. Seine Mutter sitzt etwas weiter entfernt auf einem Stuhl am Fenster und blickt hinaus, beobachtet das Geschehen auf der Straße, ist zwar bei ihm, doch so weit entfernt. Denn seine Mutter kann nicht lesen. Auch seine Großmutter nicht, ja seine ganze Familie. Sie leben in einer anderen ganz ursprünglichen Welt, aus der er aber hinausgeschritten ist. Sein väterlich gütiger Volksschullehrer bemerkte sein Talent, überzeugte seine verwitwete Mutter und die gestrenge Großmutter, ihn doch auf das Lycée – das Gymnasium – zu schicken. Eine ganz andere Welt erwartet ihn dort, eine Welt, die so weit weg scheint von dem Haus, dem Leben seiner Anverwandten, die um jeden Franc bedacht sind, deren Leben nur um die notwendigen Dinge kreist. Nur einmal im Jahr treffen sich die Welten, nur einmal im Jahr gehen Mutter und Großmutter in die Schule um mitzuerleben, wie ihr Junge Auszeichnungen für seine Leistungen erhält.
Doch diese erdig einfache Welt ist sein Ursprung, in ihr hat er wunderbare Momente erlebt, auf der Jagd mit seinem Onkel, beim Fußballspielen, in kleinen Momenten voller Euphorie, aber auch ganz furchtbare, geschlagen von der Großmutter in größter Verzweiflung, in Armut.
Krol wird bei seinem Vortrag von fünf Musikern begleitet
Dieser kleine Junge ist das alter Ego von Albert Camus, dem großen französischen Denker, der in Algerien geboren ist und seine Kindheit in Algier verbracht hat. In wunderbaren, ja mitreißend vor szenischer Kraft blühenden, Worten schildert er in seinem Romanfragment „Der erste Mensch“ seine Kindheit zwischen Armut, banaler und doch so tiefe Wahrheiten in sich bergenden Unwissenheit um ihn herum und seiner Chance zu höheren Bildung. Zumindest handeln die Passagen, die Joachim Król gemeinsam mit Marin Mühleis ausgesucht hat, um sie auf berührende Weise zu rezitieren, von diesen Anfängen.
Król, begleitet von fünf Musikern, die das Erzählte mal mittelbarerer, mal unmittelbarerer klanglich illustrieren, sitzt auf der Bühne des Schauspielhauses Düsseldorf auf einem Barhocker. Vor ihm ein Notenpult, in das er sich vertieft, doch aus ihm heraus schier nicht enden wollende Bilder herauszuzaubern vermag. Bilder aus Camus Manuskript, die eine Kindheit schildern, die mehr ist als das nur Geschehene und Gesagte.
Die als Parabel gelten kann für die unbändige Kraft der kindlichen Sehnsucht nach Erleben und Erfahren. Das Programm, mit dem Król, dessen Kindheit übrigens gewisse Parallelen zu dem Erzählten aufweist, auf Tournee geht, überwältigt mit großem Seelenfunken. Król selbst stammt aus einer Arbeiterfamilie, war Sohn eines Bergmanns, und man spürt nicht selten, dass ihn manche Szenen schon sehr nahe gehen – so auch die oben geschilderte etwa. Er lebt das Erzählte mit, steigert sich mitunter in ein euphorisiertes Überhöhen, das aber ganz perfekt zu der Vorlage zu passen scheint. Seine Rezitation begleitet er mit immer wieder aufkeimenden Gesten, die wie ein Vorwegzeigen, ein Nachverfolgen der Worte wirken können; bisweilen bohrt sich seine Hand in eine unsichtbare Wunde vor ihm, in der Luft, als wolle er das Gesagte festhaltend den Schmerz, den eine Szene in sich trägt, noch intensivieren. Dann wechselt er in Leichtigkeit, in einen fast plauderhaften Ton.
Projektionen und eine geschmackvolle Richtregie erzeugen immer wieder wechselnde Stimmungen, die die intime Lebensgeschichte eines Jungen unterstreichen. Der gesamte Abend wirkt schlüssig, entführt recht schnell in diese Welt, so sehr, dass man fast vergisst, im Schauspielhaus zu sein. Dazu tragen die Musiker des „L‘orchestre du soleil“ auch maßgeblich bei. Könnte man vielleicht – wollte man etwas aussetzen wollen – sagen, dass sie manchmal etwas starr, ja unbewegt wirken, wie sie auf erhöhten Podesten um Król herumsitzen, doch die Musik schafft es dennoch, atmosphärische Klanglandschaften zu schaffen, die sich mal verdichten, mal eher im Hintergrund bleibend eher etwas von ambienten Sounds haben.
Die von Christoph Dangelmaier komponierten Klänge, gespielt von Sami Mansour am Oud, Ekkehard Rössle, Saxofon und Klarinette, Jerome Goldschmidt Percussion und Maira Reiter am Akkordeon, changieren schön zwischen arabischen und französischen Aromen.
Eine sehr aparte Idee zudem ist, einen Tagesschaubericht von der Nobelpreisverleihung an Camus an den Anfang und dem Ende des Abends zu setzen.
Das Publikum im ausverkauften Schauspielhaus war elektrisiert. Standing Ovations.