Unbekanntes Gemälde Als Blutegel Beuys’ Rücken zierten
Düsseldorf · Ein bisher nicht öffentlich gezeigtes Bild seines früheren Nachbarn zeigt den Künstler als Menschen, der ausgesaugt wird.
Ob Joseph Beuys sich jemals Blutegel auf den Rücken setzen ließ, darüber kann man nur spekulieren. Hans-Albert Simon-Schäfer jedenfalls, 1907 in Dänemark geborener und 1993 in Düsseldorf gestorbener Maler und Zeichner, hat in einem bislang nicht öffentlich ausgestellten Gemälde seine surreale Fantasie blühen lassen und ihm einen Satz Blutegel verpasst. Mit der rechten Hand umfasst der in Rückenansicht porträtierte Künstler ein Kruzifix, in der linken hält er drei weiße Mäuse. Rechts hinten steht unverkennbar der berühmte Fettstuhl, links lodert eine Flamme.
Deuten lässt sich – so das Verständnis der Schwiegertochter Berthe-Odile Simon-Schäfer – derlei Symbolik als Anspielung darauf, dass Beuys’ Berühmtheit ihm manche falschen Freunde zuführte, die ihn aussaugten, von seinen Erfolgen profitieren wollten. Das Kruzifix bezeichnet die niederrheinische Spiritualität, in der er aufgewachsen war, die weißen Mäuse künden von des Künstlers ausdrücklich erklärter Absicht, „die Tiere rechtsfähig zu machen“. Und „Schütze die Flamme!“ war der letzte Satz einer ergreifenden Rede, die Beuys kurz vor seinem Tod im Duisburger Lehmbruck-Museum hielt.
Berthe-Odile Simon-Schäfer, früher Lehrerin am Düsseldorfer Görres-Gymnasium, machte nun auf das Bild aufmerksam und berichtete davon, wie es zustande kam. Hans-Albert Simon-Schäfer wohnte und arbeitete wie Beuys und der Maler Gotthard Graubner in einem Oberkasseler Doppelhaus, Drakeplatz 4 und 5. Der Eingang zu Beuys’ Trakt im Haus Nr. 4 war ein Doppeltor. In unmittelbarer Nähe wohnte Simon-Schäfers Sohn mit seiner Familie.
Berthe-Odile Simon-Schäfer erinnert sich: „Da wir nur wenige Schritte voneinander entfernt wohnten, kamen die Beuys-Kinder häufiger mit ihren Schulaufgaben zu mir und später auch manchmal der Vater mit dem Zigarettenpäckchen in der Weste. ,Darf ich bei dir eine anzünden? Zu Hause bekomme ich Ärger, wenn ich rauche.’“
Die beiden Familien lebten nachbarschaftlich im Atelierhaus
Beuys’ Einladung zur legendären Begegnung mit Andy Warhol im Frühjahr 1979 bestand Berthe-Odile Simon-Schäfer zufolge aus drei Wörtern: „Kommt ihr mit?“ Dem amerikanischen Künstlerkollegen stellte er die junge Frau als „meine Nachbarin“ vor. „Sie schätzten sich gegenseitig. Man lebte nachbarschaftlich im Atelierhaus, unterhielt sich auch auf der Straße“, sagt sie über das Verhältnis ihres Schwiegervaters zu Beuys.
Anders als noch in den 30er- und 40er-Jahren war nach dem Zweiten Weltkrieg Hans Albert Simon-Schäfers klassizistisches Können, vornehmlich in der Landschaftsmalerei, nicht mehr gefragt. Während in den 50er- und 60er-Jahren Zero-Kunst und Gerhard Richter Aufmerksamkeit erregten, wandte er sich surrealistischen Themen zu und verdiente sein Geld vor allem mit Kunst am Bau und Porträtmalerei. Seine Ehefrau ging in den Schuldienst und trug zum Unterhalt der Familie bei. Viele Bilder seines Nachlasses befinden sich heute im Besitz der zweiten Ehefrau seines Sohnes sowie im Besitz seiner Enkelin Berenike. Als kleines Mädchen lernte sie Beuys noch kennen. Sie erinnert sich: „Er war sanft und unprätentiös.“
Es handelt sich um insgesamt 50 Ölgemälde. Wer sie auf Fotos betrachtet, dem öffnet sich eine befremdlich stille Welt zwischen de Chirico, Dalí und Magritte. Vor oft flächigen Hintergründen wie im Beuys-Bild präsentieren sich Gestalten zwischen Mensch und Tier. Das Gesicht eines Herrn mit einem Tablett besteht aus einem oval gerahmten Tierbild. Auf einem anderen Gemälde reckt sich eine Mischung aus Blatt und Heuschrecke empor. Ein Paar, das hinter einer brennenden Kerze gesenkten Haupts vor den Schatten sitzt, welche die Kerze auf die Wand dahinter wirft, bildet das Kernmotiv einer weiteren Komposition. Und in einer Landschaft, die sich verdunkelt hat, stürzt auf wiederum einem anderen Gemälde ein Vogel rücklings zur Erde. Wenn Simon-Schäfer das Beuys-Porträt auf ihrem Laptop betrachtet, denkt sie im Jahr des 100. Geburtstags von Joseph Beuys mehr denn je an ihre letzte Begegnung mit
ihm: „Ich traf ihn das letzte Mal vor seinem Toreingang, wie stets im weißen Hemd, mit Weste und Hut, doch weniger aufrecht und gezeichnet vom Leiden. Es gehe ihm nicht gut, sagte er. Der Druck auf der Brust mache ihm zu schaffen, und das Atmen falle ihm schwer. An das letzte Gespräch erinnere ich mich jedes Mal,
wenn ich am Tor der Hausnummer 4 vorbeikomme, und auch an das beklemmende Gefühl der Scham und Sprachlosigkeit des Gesunden gegenüber dem Kranken in seiner Demut und Bescheidenheit.“
Joseph Beuys starb am 23. Januar 1986.